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Venezolanische Geflüchtet haben ihre Zelte an den Grenzen aufgebaut. ©Plan International/Annika Büssemeier
Venezolanische Geflüchtet haben ihre Zelte an den Grenzen aufgebaut. ©Plan International/Annika Büssemeier
18.12.2020 - von Claudia Ulferts

Lateinamerikas vergessene Krise

Seit sechs Jahren steckt Venezuela, einst Vorzeigedemokratie und reicher Erdölstaat, in einer tiefen wirtschaftlichen, politischen und humanitären Krise. Mehr als fünf Millionen Menschen haben das Land verlassen. Die größte Flüchtlingskrise Lateinamerikas hat sich durch die Covid-19 Pandemie noch verschärft. Mahelia Hohlfeld, Plan-Expertin für Katastrophenschutz, erklärt, warum Schutz für die Geflüchteten in Kolumbien, Ecuador und Peru so wichtig ist.


Welchen Gefahren sind die Menschen ausgesetzt, wenn sie aus Venezuela fliehen?

Die Corona Pandemie hat die Fluchtrouten extrem gefährlich gemacht. Viele offizielle Grenzübergänge wurden von den Regierungen geschlossen. Deshalb müssen die Venezolaner:innen auf illegale Grenzübergänge ausweichen. Doch gerade an der kolumbianischen Grenze gibt Drogenhandel und bewaffnete Gruppen. Die Geflüchteten geraten zwischen die Fronten sich bekriegender Banden. Für junge Frauen ist das besonders gefährlich. Zum Beispiel werden sexuelle Gegenleistungen dafür gefordert, dass man sie durchlässt. Und junge Männer können als Kindersoldaten zwangsrekrutiert werden. Unser Projekt klärt über solche Gefahren auf und warnt davor, illegale Übergänge zu benutzen.

Mit welchen Herausforderungen haben die geflüchteten Venezolaner:innen zu kämpfen, wenn sie in Kolumbien, Ecuador oder Peru ankommen?

Es kommt vieles zusammen, aber ein wirklich großes Problem ist, dass Geflüchtete oft keine Papiere haben. Sie haben sie auf der Flucht verloren, wurden ausgeraubt oder hatten gar keine gültigen Papiere, als sie ihr Land verließen. Durch die Corona-Lockdowns ist es fast unmöglich geworden, an Dokumente heranzukommen. Anfangs hat das größte Aufnahmeland Kolumbien den Geflüchteten noch Papiere ausgestellt, aber als immer mehr Menschen in das Land strömten, bekamen Venezolaner:innen nirgendwo mehr Papiere, vermutlich, um ihren dauerhaften Aufenthalt zu erschweren.

Mit der steigenden Zahl der Geflüchteten, wächst die Not, da entlang der Fluchtrouten sauberes Wasser und Nahrung fehlen. ©Plan International/Annika Büssemeier
Mit der steigenden Zahl der Geflüchteten, wächst die Not, da entlang der Fluchtrouten sauberes Wasser und Nahrung fehlen. ©Plan International/Annika Büssemeier

Welche Auswirkungen hat es, wenn Menschen keine Papiere haben?

Es macht gerade junge Frauen extrem anfällig für Gewalt, Ausbeutung und sexuelle Übergriffe und heranwachsende Männer laufen Gefahr, als Kindersoldaten in den umkämpften Grenzregionen von Kolumbien rekrutiert zu werden. In den aufnehmenden Ländern gehen die Probleme dann weiter. Dort haben sie ohne Papiere keinen Anspruch auf Gesundheitsversorgung und Bildung. Uns geht es darum, bei den Behörden der aufnehmenden Länder ein Bewusstsein für diese vielen Probleme zu schaffen. Wir verhelfen den Geflüchteten zu Rechtsbeistand und informieren sie, auf welche öffentlichen Dienstleistungen sie Anspruch haben.

Plan unterstützt geflüchtete Familien an den Grenzen. ©Plan International/Annika Büssemeier
Plan unterstützt geflüchtete Familien an den Grenzen. ©Plan International/Annika Büssemeier

Das ist aber bestimmt noch nicht alles an Problemen, mit denen die Geflüchteten zu kämpfen haben?

Nein, es gibt viele Ressentiments den Venezolaner:innen gegenüber, die Menschen der Nachbarländer haben selber nicht viel. Nun kommen all diese Geflüchteten. Da entsteht Neid und Xenophobie, nach dem Motto: Die bekommen das, was uns zusteht. Venezolaner:innen haben in den Nachbarländern durch ihr sozialistisches System einen schlechten Ruf. Sie gelten als arbeitsunwillig oder gar kriminell. All das macht es extrem schwierig, einen Job zu bekommen. Für junge venezolanische Frauen sind sexuelle Dienstleistungen oft die einzige Möglichkeit, über die Runden zu kommen. Die Mehrheit nimmt sie nur als Erotikobjekte wahr. Es ist schwierig, außerhalb dieses verpönten Milieus eine Arbeit zu finden. Oder sie bekommen einen, verdienen aber nur ein Drittel dessen, was Einheimische bekommen würde. Da gibt es überhaupt keine Chancengleichheit.

Welche Hilfe hat Plan für gefährdete junge Frauen?

Da geht es vor allem darum, dass junge Frauen ihre sexuellen und reproduktiven Rechte kennen, dass sie wissen, wie sie verhüten und sich vor einer ungewollten Schwangerschaft schützen können, dass über Menstruationshygiene aufgeklärt wird.  Geflüchtete Mädchen können sich oft keine Hygieneartikel leisten. Sie gehen dann nicht in die Schule, weil sie sich ungeschützt fühlen. Deswegen verteilen wir Hygiene-Kits. Geflüchtete Kinder sind noch einmal ganz anders gefährdet.

Wie erleben sie die Krise und was kann Plan für sie tun?

Viele Kinder sind traumatisiert und brauchen psychosoziale Unterstützung. Wir schaffen sichere Räume für sie. Das können Aktivitäten wie Basteln, Spielen oder Tanzen nach der Schule sein. Genauso wichtig ist es, Druck von den Eltern zu nehmen, damit sich der nicht den Kindern gegenüber entlädt. Für die Eltern kommt oft alles zusammen: das Einkommen ist weg, durch Corona sind Jobs weggefallen, Geflüchtete müssen auf engstem Raum zusammenleben, haben existenzielle Sorgen, dürfen wegen Corona nicht raus. Es ist extrem schwierig, Kindern in diesem Chaos so etwas wie ein Zuhause zu bieten. Wir sensibilisieren Eltern, damit sie Zeichen von Traumatisierungen erkennen und bieten zum Beispiel Trainings zu positiver Erziehung an.

…aber irgendwie müssen die Eltern ja auch unterstützt werden, damit sie sich entspannen können…

Ja, auf jeden Fall. Wir helfen mit Nahrungsmittelpaketen oder auch über Bargeldgutscheine, denn was nutzt es den Familien, über Kinderschutz Bescheid zu wissen, aber sie nichts zu essen zu haben? Cash und Voucher werden immer wichtiger. Einerseits, um den Geflüchteten Mitsprache einzuräumen, denn Sie wissen selbst am besten, wofür sie gerade Geld brauchen, ob für die Miete oder für Essen. Andererseits müssen wir unsere Arbeit an die Pandemiebedingungen anpassen. Fast alles wird wegen Covid-19 „remote“ durchgeführt. Wir arbeiten mit Banken zusammen, die Familien bekommen dann eine Art PIN Code und können sich darüber für eine gewisse Zeit Geld am Geldautomaten holen. Außerdem arbeiten wir mit lokalen Supermärkten zusammen, wo sich die Begünstigten entweder einen Gutschein abholen und Waren kaufen können.

Mahelia arbeitet in der Abteilung Internationale Zusammenarbeit bei Plan International. ©Mahelia Hohlfeld

Was wünschst du dir persönlich angesichts so vieler Probleme?

Dass diese Krise viel mehr in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Es ist eine der größten humanitären Krisen auf der Welt, aber kaum jemand schaut hin. Es tut mir weh, dass diese Menschen so vergessen werden und Kinder in chancenlosen Situationen aufwachsen müssen.

Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt gefördert.

Durch das vom Auswärtigen Amt finanzierte länderübergreifende Schutzprojekt für Geflüchtete aus Venezuela unterstützt Plan International Menschen in Kolumbien, Ecuador und Peru mit einem breiten Bündel an Maßnahmen. Das Projekt hat eine Laufzeit von 2,5 Jahren und wird mit rund 5 Millionen Euro vom Auswärtigen Amt finanziert.

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