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Bei der Arbeit: Das ehemalige Plan-Patenkind Tort arbeitet in einer Grundschule bei Siem Reap, im Norden Kambodschas. © Plan International
Bei der Arbeit: Das ehemalige Plan-Patenkind Tort arbeitet in einer Grundschule bei Siem Reap, im Norden Kambodschas. © Plan International
16.05.2018 - von Claudia Ulferts

Kambodscha - Unentgeltliche Englischstunden im Schatten der Angkortempel

In Siem Reap, im Norden Kambodschas, herrscht trotz des boomenden Tourismus um die weltberühmten Angkor Tempel große Armut auf dem Land. Tort, ein ehemaliges Plan-Patenkind, das mit nur einem Arm geboren wurde, gibt jeden Abend unentgeltlich Englischklassen für benachteiligte Kinder aus den Nachbardörfern.


Gerade sechs Kilometer trennen Torts Zuhause von den weltberühmten Angkor-Tempeln. Doch im Gegensatz zur boomenden Touristenstadt Siem Reap und den Besucherströmen in den Tempelanlagen lebt Tort mit ihrer Familie in einem Dorf, das wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Holzhäuser auf Stelzen, ein Kochhaus mit Wänden aus Stroh auf sandigem Boden. Hunde dösen im Schatten und Hühner picken.

Auf der überdachten Veranda sitzen erwartungsvoll 30 Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren auf roten Plastikstühlen vor alten Schultischen - vor sich ein Englischbuch, eine kleine Schiefertafel und ein Schreibheft.

„Hello, how are you?“, ruft die 23jährige Tort den Kindern zu und bittet sie, das Alphabetlied zu singen. „W for Watermelon, Y for yellow, Z for Zebra!“, schmettern die Kinder. Als nächstes sollen sie buchstabieren. Die junge Lehrerin kann sich gar nicht retten vor lauter hoch schnellenden Fingern. „Wa-ter-me-lon!“ rufen die Kinder. Jeden Abend von Montag bis Freitag gibt Tort nach ihrer Arbeit in einer Grundschule zwei Stunden lang unentgeltlichen Englischunterricht für die Kinder aus der näheren Umgebung. Nahezu alle Mädchen und Jungen, die zu ihr kommen, sind Plan-Patenkinder. So wie sie selbst bis vor fünf Jahren ein Patenkind war. Lächelnd zeigt sie den ersten Brief ihrer Patin aus Baden-Württemberg aus dem Jahr 2005. Sie bewahrt ihn wie einen Schatz in einer Plastikhülle auf, damit er keinen Schaden nimmt.

„Ich möchte zurückgeben, was ich selbst bekommen habe“, sagt Tort auf die Frage, warum sie fünf Abende pro Woche unentgeltliche Unterrichtsstunden gibt. Dass sie studieren konnte, war keine Selbstverständlichkeit. Tort wurde mit nur einem Arm geboren. Viele Dinge waren für sie schwieriger, als für andere Kinder. Über Plan engagierte sie sich in einem Kinderclub und bekam Unterstützung für Schule und Studium. „Hier in den Grundschulen wird kein Englisch unterrichtet“, erklärt Tort ihr ehrenamtliches Engagement. „Dabei ist es so wichtig. Du hast damit viel bessere Chancen auf eine gute Arbeit.“

Torts Mutter Hart, 56 Jahre alt, erzählt, dass ihre Tochter immer schon eine erstaunliche Willensstärke hatte: „Als Mädchen, wenn sie in der Frühe die Kühe hüten musste, hat sie sich immer ein Buch mitgenommen oder Hausaufgaben gemacht. Wir haben sie ermutigt, weil wir wussten, dass Tort anders ist und nur über Bildung eine Chance haben würde.“

Hart und ihr Mann Hoy sind einfache Leute, die nie Schreiben oder Rechnen gelernt haben. In der Familie hat es schon manches Leid gegeben. Hoy hat in früheren Jahren häufig getrunken. Wenn er betrunken war, zerstörte er manchmal Möbelstücke oder andere Dinge auf dem Grundstück. Heute ist er ruhiger. Von ihren Kindern arbeiten zwei Töchter als Saisonarbeiterinnen in Thailand, zwei weitere sind bereits verheiratet. Tort ist die einzige, die eine weiterführende Schule besucht hat und sogar einen Universitätsabschluss besitzt. Nach dem Studium begann sie, in einer Grundschule als Bibliothekarin zu arbeiten. Die Bibliothek hat sie in wenigen Monaten in einen ansprechenden Ort für die Schulkinder verwandelt. An den Fenstern hängen aus Papier gebastelte Blumen und Sonnen. In kleinen Vasen stehen ebenfalls Papierblumen. Mit den Kindern erstellt sie Bilderbücher mit handgeschriebenen Texten: „Die Ameise und der Vogel“ heißt eines. „Der Vogel und der Wurm“ ein anderes.

Für Tort ist klar, dass sie mit ihren Eltern leben und sich um sie kümmern wird, wenn sie alt sind. 225 US-Dollar verdient sie als Bibliothekarin. Schon jetzt trägt sie mit ihrem Gehalt dazu bei, dass Lebensmittel und andere Dinge für die Familie gekauft werden können. Einen Teil spart sie, denn Tort möchte noch einmal studieren, um an einer weiterführenden Schule als Englischlehrerin zu arbeiten. Das würde ihr Gehalt verbessern und sie dürfte sich auf Englisch als Fach konzentrieren. Im Augenblick zieht sie es vor, in der Bibliothek zu arbeiten, weil sie an der Grundschule alle Fächer unterrichten müsste. „Ich weiß nicht, wie ich das in Mathematik mit einem Arm machen soll. Da muss ich mit einem Lineal arbeiten.“

Ihre Eltern wissen mittlerweile, dass das Kind, um das sie sich einst am meisten sorgten, heute der Hoffnungsträger der Familie ist. Eine Kämpferin, die sich nicht mit ihrem Handicap abfinden wollte. Die mit nur einer Hand täglich acht Kilometer zu ihrem Arbeitsort fährt. Und noch dazu eine junge Frau, die zurückgeben möchte, was sie bekommen hat. „Das Lachen der Kinder ist der größte Dank für meine unentgeltlichen Englischklassen“, erklärt sie.

Langsam setzt die Dunkelheit ein. Die Mädchen und Jungen aus Torts Abendklasse haben heute die Namen von Früchten und Gemüsesorten gelernt und das Buchstabieren geübt. Sie haben die Begriffe zuerst auf ihre kleinen Tafeln geschrieben und erst als sie fehlerfrei waren, durften sie sie in ihre Schreibhefte übertragen. Zum Abschluss gibt es noch ein Lied: „If you are happy and you know it, clap your hands!” singen die Kinder und klatschen begeistert in die Hände. Torts Gesicht leuchtet, sie ist in ihrem Element. Einige Kinder umarmen sie, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machen. Manche haben ihr als Dank eine Apfelsine oder eine Süßkartoffel mitgebracht. „See you tomorrow“, lacht Tort und winkt ihnen hinterher.