Palmen säumen Strände vor türkisfarbigem Wasser und die immer grünen Hügel lassen Haiti als ein Paradies erscheinen. Das Leben in dem Inselstaat ist allerdings alles andere als erholsam – was Junette nur allzu genau zu berichten weiß. Um ein kleines Einkommen zu erzielen, arbeitet die 45-Jähre als Steinbrecherin. An Straßenkreuzungen postiert, braucht sie rund zwei Tage, um einen Lastwagen mit zerkleinerten Steinen zu befüllen. 1.500 bis 2.000 Gourdes (etwa 15 US-Dollar) bringt ihr der Knochenjob ein. Das reicht ein paar Tage und gerade so für die Lebensmittel, die sie für sich und ihre Kinder braucht.
In Haiti sind mindestens 60 Prozent der Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. Nun ist das Land mit einer Treibstoff- und Nahrungsmittelkrise konfrontiert, die seit dem Sommer immer stärker den Alltag erschwert. 4,9 Millionen Menschen (43 Prozent der Bevölkerung) leiden unter akuter Ernährungsunsicherheit, und 1,3 Millionen Menschen benötigen dringend Nahrungsmittelhilfe, was Haiti zu einem der hungrigsten Länder der Welt macht. „Die steigende Inflation, die hohen Lebensmittel- und Treibstoffkosten sowie die sich verschlechternde Sicherheitslage treiben die Bevölkerung in den Ruin“, sagen Mitarbeitende von Plan International Haiti. Nach jüngsten nationalen Erhebungen stirbt in Haiti eines von zwölf Kindern vor dem fünften Lebensjahr an vermeidbaren Krankheiten und Unterernährung. Aktuell melden die Behörden einen neuen Ausbruch der Cholera.
Seit dem Sommer sind in dem Karibikstaat gewaltsame Unruhen wieder alltäglich. Sie wecken Erinnerungen an die blutige Zeit der 1990er-Jahre und haben inzwischen das ganze Land lahmgelegt. Auf den Hauptstraßen brennen immer wieder Reifen oder Fahrzeuge als Barrikaden. Die Bevölkerung protestiert ihrerseits mit Streiks gegen die schlechte Versorgungslage, hohe Inflation und die sich ausbreitende Gewaltkriminalität. Vor allem in und um die Hauptstadt Port-au-Prince wird durch all diese Aktionen der Transport von Menschen und Gütern unterbrochen. Die Situation in dem so schönen Land ist äußerst unbeständig und das Sicherheitsrisiko hoch.
Das wird auch zunehmend für Salinda (22) ein Problem. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Croix-des-Bouquets im Süden Haitis. Zuvor wohnte sie allein in Port-au-Prince. Doch als sie schwanger wurde, verließ sie die haitianische Hauptstadt, welche eine der höchsten Entführungsraten pro Kopf weltweit hat. Alleinstehende Frauen waren dort schon vor der jüngsten Krise extrem gefährdet. „Ich wollte nicht, dass mein Kind in Port-au-Prince aufwächst, wo Menschen getötet werden.“
„Ich wollte nicht, dass mein Kind in Port-au-Prince aufwächst, wo Menschen getötet werden.“
Besonders hart ist die aktuelle Versorgungskrise allerdings für alleinerziehende Mütter wie Junette, die schon vor der großen Misere – der „gwo mizè a“, wie es auf Kreolisch heißt – kaum ausreichende wirtschaftliche Mittel hatten, um überleben zu können. Ihr Ehemann starb 2021 während der Corona-Pandemie, sodass sie ihre fünf Kinder allein erziehen muss. Sie kümmert sich außerdem um ihre vier Nichten und Neffen – insgesamt neun Kinder hat sie zu versorgen. Junette ist sich bewusst, dass die galoppierenden Lebenshaltungskosten sie und ihre Familie dem Risiko der Ausbeutung aussetzen – vor allem aber dem Risiko von Gewalt. Entführungen, Plünderungen und Mord haben zugenommen. In Port-au-Prince sowie den Provinzstädten kam es zu massiven Unruhen.
„In dieser Situation kann jeder versuchen, den Kindern im Tausch für Essen etwas anzutun – vor allem den Mädchen.“
„In dieser Situation kann jeder versuchen, den Kindern im Tausch für Essen etwas anzutun – vor allem den Mädchen. Wenn jemand unbekanntes ihnen etwas gibt, frage ich mich, warum“, sagt die 45-Jährige besorgt. Als ihr Mann noch lebte, besaß die Familie Ackerland, auf dem Getreide wuchs. Doch nach seinem Tod wurde Junette von dort vertrieben: „Man sagte mir, ich habe keinen Anspruch auf das Land, ich könne nicht auf die Felder gehen, weil sie uns nicht gehörten.“
Die Lebensmittelpreise in Haiti sind unter anderem deshalb so stark gestiegen, weil die Hauptstraßen, die Port-au-Prince mit dem südöstlichen Departement verbinden, nach einer Welle schwerer Bandengewalt gesperrt wurden. Bewaffnete Gangs kontrollieren fast jede Route innerhalb von und um Port-au-Prince herum.
Der Konflikt in der Ukraine hat zudem zu einem weltweiten Anstieg der Benzin- und Gaspreise geführt. In Haiti wurden die Tankstellen geschlossen, was die Versorgungslage weiter verschlechtert hat. Sogar Hilfsgüter können kaum noch transportiert werden. „Meine Jüngsten fragen mich oft, wann ich etwas kochen werde. Wir haben seit einem Jahr nicht mehr gut gegessen, und manchmal nur einmal täglich“, sagt Junette.
Schule als Chance
Weil Haiti immer tiefer in die Wirtschaftskrise und Gewalt abgeglitten ist, hatte die Regierung den Beginn des neuen Schuljahres um einen Monat auf Anfang Oktober verschoben – eine neue Herausforderung für Familien wie die von Oldsen (14) und seiner Mutter Denise, weil damit nicht nur die Lernerfolge der Kinder infragestehen, sondern auch das Risiko gestiegen ist, dass sie die Schule ganz abbrechen.
Und auch die wirtschaftliche Krise wirkt sich auf die Bildung der Mädchen und Jungen aus: Obwohl laut Gesetz die Teilnahme am Unterricht für haitianische Kinder kostenlos ist, müssen die Familien trotzdem Schulgeld bezahlen, weil 80 Prozent der Schulen im Land privat sind. Diese Ausgaben stellen für viele eine enorme Belastung dar. „Kürzlich wollte ich das Zeugnis für eines meiner Kinder abholen, doch wir wurden von der Schule verwiesen, weil ich die Gebühren nicht bezahlen konnte“, erzählt Junette, die nicht weiß, ob das gleiche auch mit ihren anderen Kindern passieren wird. Im ärmsten Land Amerikas leben etwa 77 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei US-Dollar am Tag.
Junettes leibliche Kinder nehmen am Patenschaftsprogramm von Plan International teil und haben deshalb Schulsets erhalten, die Rucksäcke, Hefte und Stifte umfassen. Im Oktober erwartete die Mutter außerdem einen Geldtransfer – einen sogenannten Cashvoucher. Dieser soll dabei helfen, Lebensmittel zu kaufen und eine einkommensschaffende Tätigkeit aufzunehmen. „Wenn ich etwas Geld bekomme, gründe ich ein kleines Einzelhandelsunternehmen“, hofft Junette.
Doch die anhaltenden sozial-politischen Herausforderungen machen unternehmerische Aktivitäten schwer. Erst Anfang Oktober hatten nach Wochen die Banken im Land wieder geöffnet – und so konnten auch die sehnlich erwarteten Geldgutscheine in verschiedenen Plan-Partnergemeinden im Süden des Landes verteilt werden. Plan International hat Maßnahmen ergriffen, um trotz der Instabilität und gewalttätiger Unruhen mehr Begünstigte verlässlich zu erreichen, unter anderem durch die Zusammenarbeit mit einem anderen Geldinstitut. Denn die gewalttätigen Unruhen werden noch bis 2023 andauern – fürchten die Menschen in Haiti.
Marc Tornow hat Haiti 2018 bereist und die Geschichte von Junette und Salinda mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.