„Wir wollen gehört werden"
Christelle ist 20 Jahre alt und gehörlos. In Bangui, der größten Stadt der Zentralafrikanischen Republik, hat sie gelernt, dass Stille kein Hindernis ist, sondern eine Sprache, die verstanden werden will. Doch in einem Land, das sich nach Jahrzehnten von Konflikten und Armut mühsam neu aufbaut, ist Gehörlosigkeit oft gleichbedeutend mit Unsichtbarkeit.
„Wir wollten lernen, arbeiten, ein normales Leben führen und teilhaben an der Gesellschaft“, erinnert sich Christelle. „Aber überall, wo wir anklopften, waren die Türen verschlossen. Manchmal fühlte es sich an, als wären wir überhaupt nicht da.“
Ein schwieriger Anfang
Christelle verlor ihr Gehör, als sie zwei Jahre alt war. In der Zentralafrikanischen Republik bedeutet eine Behinderung oft den Ausschluss aus dem Bildungssystem. Schulen sind selten barrierefrei, es gibt kaum Lehrkräfte, die Gebärdensprache beherrschen, und gesellschaftliche Vorurteile sind tief verankert.
Trotz dieser widrigen Umstände besuchte Christelle sechs Jahre die Grundschule und erhielt ihr Abschlusszeugnis. Doch weiterführende Schulen für gehörlose Kinder gibt es nicht. Ihre Eltern versuchten, ihr im Nachbarland Kamerun den Schulbesuch zu ermöglichen, doch auch dort blieb ihr der Zugang verwehrt. Ein Privatlehrer brachte ihr schließlich den Umgang mit dem Computer bei – eine Lektion, die ihr Leben von Grund auf veränderte.
„Das war der Moment, in dem ich begriff, dass Wissen Freiheit bedeutet.“
Vom Lernen zum Handeln
Mit gerade einmal elf Jahren gründete Christelle gemeinsam mit anderen jungen Gehörlosen eine Organisation, um Betteln unter gehörlosen Menschen zu reduzieren und ihnen neue Perspektiven zu eröffnen. „Wir wollten zeigen, dass Gehörlose fähig sind und etwas beitragen können.“
Diese Initiative war mehr als ein Akt des Widerstands. Sie war ein Aufbruch, mit dem Christelle Würde und Chancengleichheit einforderte.
Eine Stimme, die Wände durchbricht
Im Jahr 2023 gründete Christelle das erste Informationszentrum für Menschen mit Behinderungen in Bangui – ein Ort, der Bildung, Beratung und Gemeinschaft bietet. Heute erreicht das Zentrum über 20.000 gehörlose Menschen im Land. Hier lernen Jugendliche das Schneidern, Friseurhandwerk und digitale Fertigkeiten. Sie tauschen Erfahrungen aus, unterstützen sich gegenseitig und gewinnen Selbstvertrauen.
Ihr Engagement blieb nicht unbemerkt. Im selben Jahr nahm sie an einer internationalen Konferenz in Nairobi teil, an der auch Vertreter:innen großer Technologieunternehmen teilnahmen. Dort sprach Christelle über digitale Barrierefreiheit und den Zugang zu Informationstechnologie für Menschen mit Behinderungen. Nach ihrer Rückkehr half sie, lokale Zentren aufzubauen, um diese Ideen in der politischen Praxis umzusetzen.
„Wir vermitteln nicht nur Fähigkeiten, sondern das Gefühl, dass jeder Mensch zählt.“
Kleine Schritte, große Wirkung
Einer ihrer größten Erfolge: die Mitwirkung an der Reform des zentralafrikanischen Wahlgesetzes. Früher durften Menschen mit Behinderungen nicht an Wahlen teilnehmen, ein Ausschluss, der ihnen das grundlegende Bürgerrecht auf Mitbestimmung nahm. Durch monatelange Lobbyarbeit und öffentlichen Druck erreichten Christelle und andere Aktivist:innen, dass der Artikel geändert wurde. Heute können auch gehörlose Bürger:innen ihre Stimme abgeben.
Ein Land zwischen Krisen und Hoffnung
Die Zentralafrikanische Republik gehört zu den fragilsten Staaten der Welt. Jahrzehntelange politische Instabilität, Armut und wiederkehrende Konflikte haben die gesellschaftlichen Strukturen zerrüttet. Bildungseinrichtungen sind vielerorts zerstört, medizinische Versorgung ist rar, und Arbeitslosigkeit prägt den Alltag vieler junger Menschen.
Für Mädchen und junge Frauen mit Behinderungen verschärfen sich diese Probleme. Sie sind häufig von Bildung ausgeschlossen, erleben Diskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt – und finden kaum Zugang zum Arbeitsmarkt.
Als im letzten Jahr heftige Überschwemmungen Bangui trafen, wurde deutlich, wie verletzlich gehörlose Menschen in Katastrophenfällen sind. Frühwarnsysteme basieren meist auf Lautsprecherdurchsagen oder Radiosendungen – für Gehörlose unzugänglich. „Wir erfuhren erst spät von der Flut. Es war, als wären wir gar nicht Teil der Gesellschaft“, erinnert sich Christelle.
Trotz dieser Umstände entstehen in den letzten Jahren kleine Fortschritte. Lokale Initiativen, unterstützt von Organisationen wie Plan International, fördern Selbstorganisation, Bildung und Schutz für besonders gefährdete Gruppen. Dabei stehen die Bedürfnisse und Perspektiven der jungen Menschen selbst im Mittelpunkt. Christelle nahm 2025 am Regionalen Jugendforum der Kinderrechtsorganisation teil. Dieses Forum brachte Aktivist:innen aus verschiedenen Ländern West- und Zentralafrikas zusammen. Dort entstand die sogenannte Erklärung von Conakry, ein Dokument mit acht Handlungsfeldern, zur besseren Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in gesellschaftliche Entscheidungsprozesse.
Inklusion als gemeinsames Projekt
Christelle weiß, dass Inklusion kein Ziel ist, das sich von heute auf morgen erreichen lässt. Es ist ein Prozess, der Geduld, Zusammenarbeit und Bewusstseinswandel erfordert.
„Eine Behinderung sollte niemanden daran hindern, seine Grundrechte und Freiheiten zu genießen“, sagt sie. Ihre Arbeit konzentriert sich heute darauf, Netzwerke aufzubauen, in denen sich junge Menschen mit Behinderungen gegenseitig unterstützen und gemeinsam Lösungen entwickeln.
„Wir sind nicht Objekte der Fürsorge. Wir sind Teil der Gesellschaft. Wir verändern sie“, fasst sie zusammen.
Die Geschichte von Christelle wurde mit Material aus dem Plan-Büro in der Zentralafrikanischen Republik aufgeschrieben.