
Leben im Provisorium
„Als die erste Granate einschlug, wusste ich: Wir müssen weg“, erinnert sich Soran (38) aus der Provinz Oddar Meanchey in Kambodscha. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie einen Graben neben dem Haus angelegt, um im Ernstfall Schutz zu suchen. Doch am 24. Juli 2025 erreichte die Gewalt an der kambodschanisch-thailändischen Grenze eine neue Dimension. Für Soran, ihren Mann und die drei Kinder blieb nur die Flucht.
Am nächsten Morgen fuhren sie mit einem Traktor los, ein paar Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände als einziges Gepäck. Nach sechs Stunden erreichten sie ein erstes Lager. „Es war schwierig, es gab keinen Platz zum Schlafen, kein Wasser zum Waschen und keine Vorräte“, sagt Soran. Auf Empfehlung ihres Bruders zog die Familie weiter nach Siem Reap, rund 20 Kilometer entfernt. Dort waren die Bedingungen besser: Latrinen, Wasserstellen, etwas Nahrung. „Ich bin erleichtert, hier zu sein. Es gibt einen Platz zum Schlafen, sauberes Wasser und Essen. Hier ist es einfacher“, erzählt sie.
Wie Soran mussten in nur wenigen Tagen über 134.000 Menschen ihre Häuser verlassen. Manche verloren Angehörige, andere ihr gesamtes Eigentum.


Bei der Ankunft erhielten die Familien grundlegende Hilfsgüter: Zelte, Moskitonetze, Matten, Nahrungsmittel und Hygieneartikel. Für Soran sind es gerade Letztere, die den Alltag erleichtern. „Wir bekamen Seife, Shampoo, Waschmittel und Zahnpasta“, berichtet sie. „Am wichtigsten sind für uns die Wasserfilter, da durch die Bombardierungen das Grundwasser verunreinigt sein kann.“ In den Lagern sind sauberes Wasser und sichere Waschräume entscheidend. Krankheiten breiten sich schnell aus, wenn viele Menschen auf engem Raum leben. Besonders Frauen und Mädchen sind auf Privatsphäre und geschützte Räume angewiesen. Fehlen sie, steigt das Risiko von Belästigung und Gewalt.
Plan International hat deshalb fast 6.000 Hygiene-Sets verteilt, 60 Latrinen gebaut und Handwaschstationen eingerichtet. Hinzu kommen 20 Wasserfilter mit je 25 Litern Fassungsvermögen sowie große Stahltanks für die Wasserversorgung. „Hygiene-Sets sind in einer Situation wie dieser nicht nur praktische Hilfsmittel, sondern entscheidend für Gesundheit und Sicherheit“, sagt eine Projektkoordinatorin von Plan International in Siem Reap.

Mehr als Nothilfe: Sicherheit und Stabilität
Neben der akuten Versorgung geht es auch darum, den Familien Stabilität zu geben. Plan International hat zusammen mit lokalen Partnern vor Ort kinderfreundliche Räume eingerichtet. Dort können die Mädchen und Jungen spielen, lernen und psychologische Unterstützung erhalten. Rund 800 Kinder und 100 Erwachsene haben bisher an Angeboten zur mentalen Gesundheit teilgenommen.


Für Frauen und Mädchen wurden separate Zelte geschaffen: Orte, an denen sie sich umziehen oder ihre Menstruationshygiene sicher bewältigen können. Diese Maßnahmen sollen verhindern, dass die ohnehin belastende Situation zusätzliche Risiken birgt.
Soran bleibt vorsichtig, was eine Rückkehr angeht. „Ich möchte nach Hause zurück. Aber man hat uns geraten, noch zu warten, weil unser Haus zu nah an der Grenze liegt.“ Die Unsicherheit ist groß: Niemand weiß, ob Häuser, Vieh und Ernte noch unversehrt sind. Umso wichtiger ist für sie, dass ihre Kinder nicht den Anschluss verlieren und weiter den Unterricht besuchen können.
„Wenn wir zurückkehren, wünsche ich mir, dass meine Söhne wieder zur Schule gehen können.“

Strukturelle Herausforderungen in Kambodscha
Der Konflikt an der Grenze trifft ein Land, das ohnehin mit zahlreichen Belastungen ringt. In vielen Regionen Kambodschas leben Familien von unsicheren Einkommen. Auf dem Land fehlen oft stabile Erwerbsmöglichkeiten, verlässliche Wasserversorgung und medizinische Einrichtungen. Grenzprovinzen wie Oddar Meanchey sind zudem seit Jahrzehnten Schauplätze von Spannungen. Schon kleinere Zwischenfälle reichen, um ganze Gemeinden zur Flucht zu zwingen.
Hinzu kommen klimatische Risiken: Dürren, Überschwemmungen und der Verlust landwirtschaftlicher Flächen machen die Lebensgrundlagen noch instabiler. Für viele Familien bedeutet das, dass selbst kleine Krisen sofort existenzbedrohend werden. In diesem Umfeld zeigt sich, wie wichtig es ist, Nothilfe mit langfristigen Maßnahmen zu verbinden, etwa durch Investitionen in Bildung, Wasserversorgung, Gesundheit und Kinderschutz.


Zwischen Unsicherheit und Hoffnung
Für Soran und ihre Familie bleibt die Zukunft offen. Das Lager in Siem Reap bietet vorläufig Schutz, doch das Ziel ist klar: zurück nach Hause. „Ich hoffe, dass unser Eigentum noch unberührt ist und meine Kinder ihre Schule fortsetzen können“, sagt sie.
Bis dahin helfen Hilfsgüter und psychosoziale Angebote, den Alltag zu strukturieren. Sie ersetzen nicht, was verloren ging – doch sie verschaffen Zeit und Stabilität, solange eine Rückkehr noch nicht möglich ist.
Die Geschichte von Sorans Familie wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Kambodscha aufgeschrieben.