Eine Heimat, die kein Zuhause mehr ist

Foto: Plan International

Als in Port-au-Prince Schüsse fallen, flieht Marceline mit ihrem Sohn Richtung Süden Haitis. Doch die wahre Prüfung beginnt erst, als die Waffen schweigen.

Hinweis: Der nachfolgende Artikel beschreibt Formen extremer Gewalt und Armut

Marceline erinnert sich genau an den Moment, als sie verstand, dass sie die Hauptstadt Haitis, Port-au-Prince, verlassen musste. Es war Anfang September 2024. Die Luft roch nach Staub und Rauch, und in den Straßen war es stiller als sonst. „Alle flohen“, sagt sie. „Wir gingen nach Jacmel, nur mit den Kleidern, die wir am Körper trugen.“

Marceline hatte sich mit ihrem Mann Yves und ihrem vierjährigen Sohn Samuel ein ruhiges Leben in der Hauptstadt aufgebaut. So ruhig, wie es inmitten einer eskalierenden Krise eben möglich war. Doch als ihr Cousin durch eine Schussverletzung getroffen und kurz darauf eine Tante an ihrem Arbeitsplatz erschossen wurde, blieb keine Wahl. „Da wusste ich: Wir müssen gehen“, sagt sie.

Mutter und Sohn aus Haiti
Nach der Flucht fanden Marceline und Samuel in Jacmel Schutz und Unterstützung Plan International
Junge aus Haiti mit Zeichnung
In Jacmel malt Samuel ein Haus – ein Motiv, das für ihn seit der Flucht aus Port-au-Prince besondere Bedeutung hat Plan International
Mutter und Sohn spielen Fußball
Marceline und Samuel toben beim Fußballspielen im kinderfreundlichen Raum in Jacmel Plan International

Ein Leben auf der Flucht 

Jacmel diente Marceline nicht zufällig als Zufluchtsort. Sie ist in der Küstenstadt im Südosten Haitis aufgewachsen und nach dem Tod ihres Vaters 2017 nach Port-au-Prince gezogen, um Arbeit zu finden. Die Rückkehr in ihre Heimatstadt fühlte sich zwar an wie ein Rückschritt – doch Sicherheit hatte Vorrang.

In Haiti sind in den vergangenen Monaten mehr als 1,3 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden, über 700.000 davon Kinder. Ganze Stadtviertel der Hauptstadt stehen unter der Kontrolle bewaffneter Gruppen. Für die geflüchteten Familien bedeutet das den Verlust von allem: Einkommen, Wohnung, Schule, Stabilität.

„Die Angst, erneut ohne Dach über dem Kopf zu stehen, begleitet mich täglich.“

Marceline (28), floh aus Port-au-Prince, als die Gewalt eskalierte

Marcelines Familie fand Zuflucht bei einer Tante in Jacmel. Doch das Haus war überfüllt und Spannungen wuchsen. „Eines der Kinder meinte, wir seien zu viele. Meine Tante sagte, ich solle mir bald etwas Eigenes suchen.“ 

Auch finanziell war die Flucht ein Rückschlag. In Port-au-Prince hatten sie gerade genug zum Leben; in Jacmel jedoch sind Lebensmittel teurer, Arbeit schwer zu finden und Wasser knapp. „Früher konnte ich, wenn ich etwas brauchte, irgendwie Geld auftreiben. Hier geht das nicht“, erzählt sie. Trotzdem hat Marceline ein Ziel: „Ich will ein kleines Geschäft eröffnen, unabhängig sein. Ich möchte, dass Samuel eine Zukunft hat, in der er nicht ständig umziehen muss.“

Wenn ein Kind krank wird

Eines Tages im Herbst bemerkte Marceline, dass Samuels Hals geschwollen war. Die Diagnose: eine akute Mandelentzündung, die sofort operiert werden musste. Die Kosten: 175.000 Gourdes (umgerechnet rund 1.100 Euro). Die Summe war für Marceline unerreichbar. „Ich weinte, als der Arzt mir sagte, dass Samuel operiert werden muss. Und als er mir sagte, wie teuer es ist, weinte ich wieder.“

In Jacmel führt Plan International gemeinsam mit UNICEF ein Kinderschutzprojekt durch, das Familien in Not unterstützt. Marceline stellte einen Antrag auf Unterstützung und erhielt Hilfe. „Ich war überglücklich, als Plan die Operationskosten übernahm“, sagt sie. „Das war das Beste, was mir dieses Jahr passiert ist.“ Die Operation verlief erfolgreich. 

Plan Mitarbeiter in Haiti
Die Kinder in Jacmel spielen unter der Aufsicht eines Plan International-Mitarbeiters in einem kinderfreundlichen Raum Plan International
Gruppenfoto von Jungs aus Jacmel
Gemeinsam in Jacmel – das Fußballspiel schafft Momente von Freundschaft und Zusammenhalt Plan International

Kinderschutz inmitten von Chaos

Das Projekt in Jacmel arbeitet mit lokalen Gemeinden, Schulen und Behörden zusammen, um Kinder zu schützen und Familien zu entlasten. Sechs kinderfreundliche Räume wurden in der Region eingerichtet – sichere Orte, an denen über 4.400 Kinder psychosoziale Unterstützung erhalten, spielen, lernen und wieder Vertrauen fassen können.

„Ich bringe Samuel jeden Tag dorthin“, erzählt Marceline. „Er spielt mit anderen Kindern, die auch fliehen mussten, und kann so neue Freundschaften schließen.“ Die Räume werden von geschulten Moderator:innen betreut, die mit lokalen Komitees zusammenarbeiten, um Kinder in den Krisenzeiten vor zunehmender Gewalt zu schützen.

Ein Land im Ausnahmezustand

Nach Jahren politischer Instabilität, Naturkatastrophen und wirtschaftlicher Notlage hat sich die Situation in Haiti seit 2023 drastisch verschärft. Bewaffnete Gruppen kontrollieren große Teile der Hauptstadt; Straßen und Handelsrouten sind blockiert, Preise für Lebensmittel und Treibstoff explodieren. Fast die Hälfte der Bevölkerung – rund 5,5 Millionen Menschen – benötigt humanitäre Hilfe.

Auch das Gesundheitssystem ist am Rand des Zusammenbruchs: 4,2 Millionen Menschen benötigen dringend medizinische Versorgung. Viele Krankenhäuser sind geschlossen, Medikamente fehlen, Ärzt:innen fliehen aus unsicheren Gebieten. In dieser Situation sind es vor allem Frauen und Kinder, die die Last tragen. Viele Mütter stehen allein da, wenn sie ihr Zuhause verlieren. Der Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheitsdiensten ist eingeschränkt, während das Risiko von Ausbeutung und Gewalt steigt.

Mädchen im Kinderzentrum in Haiti singend
Die Mädchen genießen im Zentrum Musik und gemeinsames Erleben nach herausfordernden Zeiten Plan International
Kinder aus Haitis Schutzzentrum
Plan International fördert sechs kinderfreundliche Räume, die 4.466 Kindern Schutz und psychosoziale Unterstützung bieten Plan International

Hoffnung im Kleinen

Plan International arbeitet in Haiti eng mit lokalen Partner:innen zusammen, um Familien in dieser Ausnahmesituation zu unterstützen und ihnen ein Stück Kontrolle über ihr Leben zurückzugeben. Tatsächlich zeigen die kinderfreundlichen Räume, wie wichtig Gemeinschaft in der Krise ist. Mädchen und Jungen lernen dort nicht nur, wie sie mit Stress umgehen können, sondern auch etwas über ihre Rechte, über Chancengleichheit und Schutz vor Gewalt. Die Eltern erhalten ebenfalls Schulungen, unter anderem zur psychosozialen Unterstützung ihrer Kinder.

„Es ist nicht einfach. Aber wenn ich traurig bin, denke ich daran, dass andere noch Schlimmeres erlebt haben. Das gibt mir Kraft.“

Marceline (28), gibt trotz aller Rückschläge nicht auf

Ein fragiles Gleichgewicht 

Für Marceline bedeutet das Projekt mehr als nur Unterstützung. Es ist ein Ankerpunkt in einer unsicheren Zeit. „Ich weiß, dass Samuel jetzt gesund ist. Das allein bedeutet alles“, sagt sie. Doch die täglichen Herausforderungen bleiben: steigende Preise, unsichere Jobs und die Sorge, wie sie die Schulgebühren bezahlen soll. Ihren Traum von einer eigenen Bäckerei oder einem Lebensmittelladen hat die Mutter trotzdem noch nicht aufgegeben: „Ich möchte meinen Sohn zur Schule schicken können und ihm beibringen, dass man selbst in schwierigen Zeiten stark bleiben kann. Ich will nicht nur überleben, ich will etwas aufbauen“, erklärt sie.

Die Geschichte von Marceline und Samuel wurde mit Material aus dem haitianischen Plan-Büro aufgeschrieben. 

Nothilfe in der Hungerkrise

Plan International unterstützt mit der Hunger-Nothilfe Kinder und ihre Familien in acht Ländern, in denen die Hungerkrise ein dramatisches Ausmaß angenommen hat: In Haiti sowie in Äthiopien, Südsudan, Somalia, Kenia, Niger, Burkina Faso und Mali stellt die Kinderrechtsorganisation unter anderem dringend benötigte Lebensmittel zur Verfügung und ermöglicht medizinische Versorgung und Betreuung. Mit einer Spende machen Sie diese Arbeit möglich.

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