
Allein auf der Flucht – Kinder erzählen
Weltweit gibt es immer mehr Gründe zur Flucht – allen voran gewaltsame Konflikte, klimabedingte Vertreibung sowie wachsende Armut. Immer mehr Menschen verlassen ihre Heimat unfreiwillig, auf der Suche nach einer besseren und sicheren Zukunft, nach UN-Angaben sind es derzeit rund 123 Millionen. Doch die Gefahren auf ihrem Weg sind groß: unsichere Fluchtrouten, Ausbeutung, Menschenhandel. Hinzu kommt, dass Regierungen weltweit ihre Staatsgrenzen abriegeln – auch und gerade in Nordamerika.
Anfang des Jahres hat die US-Regierung ihr Aufnahmeprogramm gestoppt. Es werden keine neuen Anträge mehr angenommen, laufende Verfahren ruhen und bereits genehmigte Einreisen sind storniert. Unter anderem an der nordmexikanischen Grenze kommt es deshalb zu alarmierenden Zuständen.
Plan International hat mit drei Jugendlichen gesprochen, die im Norden von Mexiko ausharren: Gabriela* (16) und Karen* (13) aus Guatemala sowie Sergio* (17) aus Venezuela. Sie waren auch Teil einer Befragung, die Plan International und Save the Children mit Unterstützung der Europäischen Union unter unbegleiteten Kindern und Jugendlichen in Mexiko durchgeführt haben.
*Namen zum Schutz der Identität geändert


Gabriela: Für ein besseres Leben alles riskieren
Als fleißige Schülerin und engagiertes Mädchen hatte Gabriela einen festen Plan für ihr Leben: Sozialarbeiterin wollte sie werden. Doch die Gewalt in ihrer Heimat Guatemala – die jährlich über 200.000 Menschen in die Flucht treibt – machte dieses Vorhaben zunichte. Besonders Frauen sind in dem zentralamerikanischen Land gefährdet: Fast die Hälfte von ihnen wird im Laufe ihres Lebens misshandelt.
Um wieder bei ihrer Mutter zu sein, die bereits in die USA migriert war, machte sich Gabriela zusammen mit ihrer Schwester auf die gefährliche Reise Richtung Norden. „Es war wirklich hart“, erinnert sich die 16-Jährige. „Meine kleine Schwester und ich waren auf uns allein gestellt.“ Einer ihrer schlimmsten Momente war, zusammen mit 250 anderen Menschen eingepfercht in einem verschlossenen Lastwagen auszuharren. „Wir erstickten förmlich“, beschreibt sie die 24-stündige Tortur.

Gabriela berichtet auch von Mädchen, die auf der Flucht vergewaltigt oder entführt wurden.
Gewalt ist für die Geflüchteten allgegenwärtig, wie die Befragung in Mexiko bestätigt. Organisierte kriminelle Banden rekrutieren zum Teil Jugendliche durch Nötigung oder locken sie mit falschen Versprechen, insbesondere auf irregulären Fluchtrouten. In Reynosa, an der Grenze zum US-Bundesstaat Texas, liegen viele Notunterkünfte in Gebieten, die von der organisierten Kriminalität kontrolliert werden. Was vielerorts fehlt, sind regulierte Betreuungsangebote sowie Schutz durch die Migrationsbehörden.
Für Gabriela war der einzige Trost, wenn Gefahr drohte, die Stimme ihrer Mutter über das Telefon zu hören. „Das Wissen, dass wir einer besseren Zukunft entgegengehen, hat mich beruhigt“, erzählt sie. Als die Schwestern eine Unterkunft in Nordmexiko erreichten, waren sie erstmal in Sicherheit. Nun warten sie auf die legale Einreise in die USA. Doch wie lange die noch andauern wird, ist ungewiss.
Gabrielas Bildung liegt auf Eis. Durch die Flucht musste sie die Schule abbrechen und hat derzeit, wie über 58 Prozent der unbegleiteten Jugendlichen, keine formale Bildungsmöglichkeit. Dennoch hält sie an ihrem Traum, Sozialarbeiterin zu werden, fest. „Ich würde gerne in Heimen arbeiten, um dort Mädchen und Jungen zu helfen – so wie ich einst Hilfe gebraucht habe“, sagt sie voller Zuversicht.



Karen: Ein Weg getragen von Hoffnung
Auch Karens Mutter hatte sich ohne ihre Tochter in die USA aufgemacht. Doch für das 13-jährige Mädchen war die Trennung irgendwann nicht mehr auszuhalten. „Ich habe Guatemala verlassen, um bei meiner Mutter zu sein“, erzählt sie. „Seit vielen Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen. Aber ich brauche sie.“
Neben der Flucht vor Gewalt ist der Wunsch, wieder mit den Eltern vereint zu sein, der Hauptgrund für die Migration der Kinder und Jugendlichen. Über 70 Prozent von ihnen haben zudem in ihrer Heimat Armut erlebt und kommen aus zerrütteten Familien, die meist nur noch aus der Mutter oder entfernten Verwandten bestehen.
Karens Flucht begann mit großer Ungewissheit. Ihre Großmutter vertraute sie einem Schmuggler an, der sie über die Grenze nach Mexiko bringen sollte. „Ich hatte große Angst, denn ich kannte diesen Mann überhaupt nicht“, erinnert sich das Mädchen. „Ich hörte nur Schritte im Dunkeln, das Brummen eines Automotors, und dann ging der Mann plötzlich weg. In diesem Moment hatte ich wirklich Angst.“
„Wenn ich mich unsicher fühlte, wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte.“
Flucht stellt für Kinder eine große Gefahr dar – vor allem, wenn sie allein unterwegs sind. Da ist der Mangel an Sicherheit, die Abhängigkeit von Fremden und die ständige Ungewissheit. Besonders Mädchen müssen geschlechtsspezifische Gewalt fürchten. Viele fliehen mit Geschwistern oder Verwandten, verlieren einander aber unterwegs aus den Augen. Andere sind von einer Abschiebung betroffen. Im mexikanischen Ciudad Juárez kamen beispielsweise nur etwa ein Drittel der befragten Kinder mit einer Begleitperson an.
„Wenn ich mich unsicher fühlte, wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte“, beschreibt Karen die Situation. Aber die Hoffnung, irgendwann wieder mit ihrer Mutter vereint zu sein, hielt sie in Bewegung. Für den Moment hat sie Zuflucht in einem mexikanischen Geflüchtetenheim gefunden – und wartet darauf, zu erfahren, ob sie in die USA einreisen und zu ihrer Mutter kann.


Sergio: Eine Reise über viele Grenzen hinweg
Die Flucht von Sergio war mit einer zusätzlichen Herausforderung verbunden. Er musste Tausende Kilometer im Rollstuhl zurücklegen. Seine Familie war bereits in seiner Kindheit mit ihm von Venezuela nach Kolumbien gegangen. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben bei Verwandten in den USA lockte sie weiter Richtung Norden.
Einer der schwierigsten Momente für Sergio war die Durchquerung des Darién-Dschungels, einer tückischen Route, deren unebene und schlammige Wege auch für jemanden ohne Rollstuhl nicht leicht zu bewältigen sind. „Ich bin auch durch schreckliche Orte gegangen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie sehen würde“, erinnert er sich. „Es gab Zeiten, in denen mir sehr kalt war und ich nichts essen konnte.“
Für Sergio, der seinen Rollstuhl über weite Strecken mit den Händen antreiben musste, war jeder Kilometer auf unebenen Straßen eine harte Prüfung. In Mexiko angekommen, waren er und seine Familie in fast jeder Stadt mit Gewalt konfrontiert. „Manchmal wurden wir sogar bedroht“, so der 17-Jährige.

Allein machte sich Sergio schließlich in die Grenzstadt Ciudad Juárez auf und wartet dort auf die Einreise in die USA. „In der Unterkunft, in der ich jetzt bin, kümmern sie sich gut um mich“, sagt er. Doch dieses Glück haben nicht alle Geflüchteten. In Reynosa zum Beispiel lebt ein Drittel der befragten Mädchen mit Fluchterfahrung seit mehr als sechs Monaten in Notunterkünften, oft in Hochrisikogebieten, in denen sie aus Angst vor Entführungen nicht einmal das Gebäude verlassen dürfen. In einigen Fällen hindern die Unterkünfte sogar die Kinder daran, Kontakt zu ihrer Familie oder zu Anwälten aufzunehmen.
Seine Familie vermisst Sergio sehr. „Ich bin nach Mexiko gekommen, um in die Staaten zu gehen, wo meine Familie auf mich wartet“, sagt er. „Ich kann mir vorstellen, als Systemingenieur in einem IT-Unternehmen zu arbeiten oder eine eigene Firma für Systemtechnik zu gründen“, berichtet er voller Tatendrang von seinen Träumen.
Was bleibt, ist die Hoffnung
Das Gefühl, das Gabriela*, Karen* und Sergio* vorrangig begleitet, ist die Ungewissheit – wie lange sie noch auf die Einreise warten müssen, wann sie ihre Familie wiedersehen oder ob sie ihren Bildungsweg bald fortsetzen können. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist die Hoffnung auf eine Zukunft, in der sie endlich zusammen mit ihren Lieben in Sicherheit leben können.
Die Geschichten von Gabriela, Karen und Sergio wurden mit Material aus dem mexikanischen Plan-Büro erstellt.
*Namen zum Schutz der Identität geändert