Wenn Mädchen zwischen die Fronten geraten

Foto: Plan International

Anlässlich des Welttages der humanitären Hilfe erzählen zwei Augenzeuginnen aus Sudan von ihren traumatischen Kriegserlebnissen und dem Leben im Geflüchtetenlager.

Hinweis: Der nachfolgende Artikel beschreibt Formen extremer Gewalt

Der Welttag der humanitären Hilfe ist all denjenigen gewidmet, die sich in Krisen begeben, um anderen zu helfen. In diesem Jahr ist die Botschaft klar: Das humanitäre System ist fragil, unterfinanziert, überlastet und massiv unter Beschuss. Internationale Solidarität und Empathie geraten bei Diskussionen um Aufrüstung und global erstarkendem Nationalismus in den Hintergrund. Umso wichtiger ist es, Berichte aus Krisengebieten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen – wie etwa in Sudan.

Dort herrscht seit über zwei Jahren Bürgerkrieg. Die Folgen: Fast 13 Millionen Menschen sind auf der Flucht, über 30 Millionen benötigen humanitäre Hilfe. Mehr als 70 Prozent der Gesundheitseinrichtungen in den Konfliktgebieten sind laut UNICEF nicht funktionsfähig; ein Drittel der Bevölkerung ist von Hunger betroffen.

Hilfsgüter werden von einem Truck abgeladen
Plan International liefert weiterhin lebensnotwendige Hilfsgüter in den Sudan – unter anderem in die Gebiete Kordofan, Nord-Darfur und Port Sudan Plan International
Fatima sitzt auf dem Boden in ihrem Zelt
Fatima wünscht sich endlich wieder Frieden in ihrem Land Plan International
Frauen bei der Ausgabe von Hilfsgütern in Port Sudan
Allein in Port Sudan haben seit April 2023 über 250.000 Binnenvertriebene Zuflucht gesucht Plan International

Gewalt, Flucht und Vertreibung

Die zehnjährige Fatima ist eine dieser Millionen Geflüchteten. Ihr Weg führte sie und ihre Familie von ihrem Zuhause in Khartum nach Port Sudan in ein Geflüchtetenlager. Das Mädchen erinnert sich, wie sie früher mit dem Fahrrad durch die Nachbarschaft fuhr, mit Spielzeug spielte und jeden Tag Obst, Gemüse und Fleisch essen konnte. Als jedoch die Gewalt ausbrach, floh die Familie aus Khartum. An die Angriffe erinnert sich Fatima kaum.

Die Zeltbehausungen im Geflüchtetenlager bieten nur wenig Schutz vor den hohen Temperaturen.

„Wir suchten erst Zuflucht in Sennar, wo wir zwei Monate blieben“, erzählt sie. Doch dort sorgten bewaffnete Gruppen für weiteres Chaos, indem sie Einwohner töteten und Generatoren stahlen. Besonders für ihren jüngeren Bruder war diese Zeit sehr belastend, er hatte Angst und weinte viel. „Ich hatte keine Angst“, sagt Fatima mit fester und ruhiger Stimme. „Ich bin mutig.“

Schließlich kam die Familie in einem Lager in Port Sudan an, einer Stadt, die unter dem Zustrom von Vertriebenenfamilien leidet. Das Lager, in dem Zelte nur wenig Schutz vor Temperaturen von über 44 Grad Celsius bieten, ist zu ihrem Zuhause geworden.

Eine Zeltstadt am Roten Meer

Bei ihrer Ankunft erhielt Fatimas Familie ein Zelt und einen Korb mit Lebensmitteln. Nun gibt es zwei Mahlzeiten pro Tag, meist nur Linsensuppe, und Fleisch ist zu einer seltenen Delikatesse geworden. Da der Vater auf dem örtlichen Markt arbeitet, kann er die Familie zumindest notdürftig versorgen.

Doch der Zustand in Port Sudan verschärft sich täglich: Stromausfälle und Wasserknappheit machen den Menschen im Lager zu schaffen, Krankheiten wie Cholera und Dengue-Fieber stellen eine ständige Bedrohung dar. Plan International reagiert darauf mit lebensrettender Hilfe – darunter Schutzmaßnahmen, psychosoziale Unterstützung und Bildung für Kinder. Allerdings bedrohen Angriffe auf die örtliche Infrastruktur diese Bemühungen immer wieder.

Ein Junge trinkt aus einem grünen Wasserkanister
Ein Junge in Port Sudan trinkt aus einem Wasserkanister Plan International
Ein Mann mit Brille, Trackingjacke und Plan-Badge um den Hals schüttelt einem jungen Mann die Hand
Mohamed Kamal (li.) beaufsichtigt Hilfslieferungen in Port Sudan Plan International

„Wir sehen bereits Anzeichen für eine Massenhungersnot in den Lagern“, beschreibt Mohamed Kamal, Landesdirektor von Plan International Sudan, die Lage vor Ort. „Jeden Tag sterben Kinder an Dehydrierung und Unterernährung. Hunderttausende sind unterernährt.“ 

Er berichtet außerdem von einem kürzlich verübten Angriff auf einen humanitären Konvoi der Vereinten Nationen in Nord-Darfur, bei dem Helfer:innen getötet und wichtige Nahrungsmittelvorräte zerstört wurden. „Es wird immer schwieriger, in den bedürftigsten Regionen zu arbeiten“, zeigt sich Kamal besorgt.

Fatima und ihre Eltern sitzen in ihrem Zelt auf dem Boden. Die Eltern helfen ihrer Tochter mit den Schularbeiten
Zusammen mit ihren Eltern lernt Fatima für die Schule Plan International

„Ich möchte den Menschen, die kämpfen, sagen, dass wir diesen Krieg nicht wollen.“

Fatima (10), ist mit ihrer Familie vor dem Bürgerkrieg geflohen

Wo Freundschaften Wunden heilen

Trotz der Entbehrungen hat Fatima die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie hat Freundinnen aus Sennar und Aljazeera gefunden – und auch aus ihrer Heimat Khartum. Was die Mädchen verbindet sind die Geschichten über ihre alten Heimatorte und den Krieg, der ihr Leben so drastisch verändert hat. „Wir sitzen zusammen und reden viel. Und wir spielen in den Höfen zwischen den Zelten“, sagt sie.

Diese Freundschaften geben ihr etwas Stabilität in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Sie träumt davon, nach Khartum zurückzukehren, wo ihre Schule und Erinnerungen auf sie warten. „Ich möchte, dass mein Land wieder in Ordnung kommt“, wünscht sie sich. „Ich möchte den Menschen, die kämpfen, sagen, dass wir diesen Krieg nicht wollen.“

Die Schrecken des Krieges

Auch die 22-jährige Khamisa aus der Stadt Omdurman, die nur der weiße Nil von der Hauptstadt Khartum trennt, lebt inzwischen mit ihrer Mutter im Lager in Port Sudan. Früher hat sie zusammen mit ihrer Mutter Tee verkauft, ging zur Schule und führte ein zufriedenes Leben. Doch die Gewalt, die sie durch den Bürgerkrieg miterleben musste, hat bei ihr ein tiefes Trauma hinterlassen.

„Auf dem Markt wurde täglich geschossen“, erinnert sich Khamisa an ihr Leben kurz vor der Flucht. Sie berichtet von Granatsplittern, die ihre Hand verletzt haben, und von Menschen, die unmittelbar vor ihren Augen auf brutale Weise getötet wurden. „Es gab auch Angriffe mit Querschlägern. Einer traf mich am Bein, aber ich habe es zunächst gar nicht gespürt. Ich dachte, es wäre nur ein Stein. Aber als ich nach unten schaute, sah ich, dass Blut herauslief. Da bekam ich Angst.“ 

Die junge Frau kam daraufhin ins Krankenhaus, aber da es so viele Notfälle gab, konnte sich zunächst niemand um sie kümmern. Aus Angst und Verzweiflung drückte Khamisa sich die vergiftete Kugel mit eigenen Händen aus dem Bein. „Es gab kaum Medikamente und wir konnten das Gegengift erst nicht finden“, schildert sie. „Mein Bein war gelähmt und taub. Aber zum Glück konnten sie es gerade noch rechtzeitig retten.“

Khamisa blickt hoffnungsvoll in die Kamera
Khamisa leidet noch immer unter dem Trauma der Vertreibung und Gewalt Plan International
Einige Jungen holen Wasser in kleinen Kanistern
Einige Jungen in Port Sudan holen Wasser in kleinen Kanistern Plan International

Die seelischen Narben bleiben

Nach diesen schlimmen Erlebnissen beschloss Khamisas Mutter die Flucht. Mutter und Tochter wurden auf dem Weg getrennt, der Kontakt brach immer wieder ab und die Situation wurde für Khamisa zunehmend schwieriger. „Dort, wo ich war, gab es keine Arbeit. Dann kam der Ramadan. Es gab Tage, an denen wir unser Fasten nur mit Wasser brachen“, erinnert sich die 22-Jährige.

Als Khamisa schließlich in Port Sudan ankam und wieder mit ihrer Mutter vereint war, gingen die beiden Frauen in das Geflüchtetenlager, in dem auch Fatima lebt. Dort fanden sie Arbeit und können nun dank ihres Einkommens und den Hilfspaketen überleben. „Die letzten Hilfspakete waren sehr hilfreich. Wir erhalten Hygieneartikelpakete, aber die werden zu selten verteilt“, sagt Khamisa. „Was die Toilettensituation angeht, haben wir uns daran gewöhnt, nach draußen zu gehen. Einige Frauen haben jedoch Angst, nachts auf die Toilette zu gehen und dort Männern zu begegnen, die sie belästigen.“

„Ich konnte meine Augen nicht schließen, ohne mir die toten Menschen vorzustellen, die ich gesehen hatte.“

Khamisa (22), hat die Schrecken des Krieges selbst erlebt
Khamisa sitzt in ihrem Zelt in Port Sudan
Khamisa wohnt in einem Lager für Binnenvertriebene in Port Sudan. Ihr Zuhause: ein einzelnes Zelt Plan International

Ihre schrecklichen Erlebnisse verfolgen die junge Frau aber noch immer. „Als wir im Lager ankamen, konnte ich nicht schlafen. Ich konnte meine Augen nicht schließen, ohne mir vorzustellen, was ich gesehen hatte: den zerteilten Körper eines Menschen über mir.“ Als Port Sudan dann unter Beschuss geriet, stieg ihre Panik: „Ich schrie. Es gab keine Ruhe und keine Sicherheit.“

Durch die psychologische Hilfe, die sie im Lager erhält, geht es ihr etwas besser. Doch heilen werden ihre seelischen Wunden wohl noch lange nicht – zumindest nicht solange der Krieg andauert. Die 22-Jährige isoliert sich – aus Angst, sie könnte liebgewonnene Menschen plötzlich verlieren. „Ich schließe keine Freundschaften hier und ich möchte auch keine mehr haben. Wie soll ich diese Menschen wiederfinden, wenn der Krieg vorbei ist und alle nach Hause gehen?“

Die Gewissheit der Ungewissheit 

Ebenso wie Fatima wünscht sich auch Khamisa, dass dieser Krieg endlich ein Ende findet. Während Fatima noch Hoffnung hat, eines Tages in ein unversehrtes Zuhause zurückzukehren, will Khamisa in Port Sudan bleiben. Zu viele sind in ihrer Heimatstadt getötet worden, zu viel erinnert sie an die erlebten Gräueltaten. Wann dieser Krieg jedoch ein Ende finden wird, ist ungewiss. 

Gewiss ist nur, dass die andauernden Kampfhandlungen die Landwirtschaft schwer beeinträchtigen und der Sudan mit einer ernsthaften wirtschaftlichen Instabilität und einer hohen Inflation konfrontiert ist. Das schränkt den Zugang der Menschen zu Nahrungsmitteln erheblich ein. Bereits in fünf Gebieten in El Fasher und den westlichen Nuba-Bergen wurde eine Hungersnot festgestellt. Diese Gebiete können aufgrund der dortigen Kampfhandlungen nur schwer mit humanitärer Hilfe versorgt werden. Die bevorstehende Regenzeit wird diese Lage in den kommenden Monaten höchstwahrscheinlich weiter verschärfen.

Dieser Artikel wurde mit Material aus dem sudanesischen Plan-Büro erstellt.

Für Schutz mitten im Krieg

UN-Zahlen zufolge ist der Sudan inzwischen Schauplatz der weltweit größten Vertreibungskrise. Von den 13 Millionen Geflüchteten haben sich über 4 Millionen in den Nachbarländern wie Äthiopien, Südsudan, Tschad und der Zentralafrikanischen Republik in Sicherheit gebracht, wo Plan International ebenfalls humanitäre Hilfe leistet. In Äthiopien zum Beispiel mit dem Projekt Ein Platz für Leben.

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