Von der Staatenlosen zur Geschäftsfrau
In der Mittagshitze sitzt Ranju hinter dem Tresen ihres kleinen Lebensmittelladens. Die Holzhütte ist kaum größer als ein Zimmer, doch für die 21-Jährige aus der nepalesischen Provinz Madhesh bedeutet sie Freiheit und Zukunft. „Kalte Getränke gehen im Sommer am besten“, sagt sie und lächelt. „Danach kommen Linsen, Reis und Zucker.“
Vor sechs Monaten eröffnete sie den Laden in Dhanusha. Was von außen bescheiden wirkt, ist für ihre Familie in Nepal eine Quelle des Stolzes. Jeden Monat erwirtschaftet Ranju etwa 25.000 nepalesische Rupien (ca. 250 Euro). Einen Teil spart sie, den Rest investiert sie zurück in ihr Geschäft. Mit akribischer Handschrift notiert sie alle Ein- und Verkäufe – ein kleiner Laden mit großer Bedeutung.
Kindheit in Unsicherheit
Ranju wuchs mit ihren Eltern und ihrem Bruder in einer Hütte aus Bambus und Blech auf. Ihre Eltern bewirtschafteten ein kleines Stück Land, auf dem Reis und Weizen wuchsen. Die Ernte reichte für die ganze Familie häufig nicht aus. „Ich erinnere mich an Nächte, in denen wir hungrig schlafen gingen“, sagt sie.
Schon ihr älterer Bruder wollte diese Situation ändern. Er ging ins Ausland, um dort zu arbeiten und schickte, so oft er konnte, Geld nach Hause. Doch eines Tages kam die Nachricht, die alles veränderte: Er war gestorben. Der Verlust stürzte die Familie in tiefe Verzweiflung. Ranju hatte gerade die 11. Klasse abgeschlossen. Ohne ihren Bruder war sie plötzlich die Einzige, auf die ihre Eltern hofften. Arbeit war rar, besonders für junge Frauen in Madhesh, wo soziale Normen ihre Bewegungsfreiheit stark einschränken.
„Keine der Mädchen in unserer Nachbarschaft hatte eine Staatsbürgerschaft. Ich dachte, das sei normal.“
Eine Chance und ein Hindernis
Eines Tages hörte Ranju im Radio von einem neuen Programm in ihrer Nachbarschaft: Youth Employment and Entrepreneurship Development. Das Programm für Jugendarbeit und junges Unternehmertum wurde von der Kinderrechtsorganisation Plan International unterstützt – ein Vorhaben, das durch kostenlose Trainings, Beratung und Vernetzung mit regionalen Institutionen benachteiligte Jugendliche unterstützt. Deren Eigeninitiative soll gestärkt werden, damit individuelle Geschäftsideen realisiert und Einkommen erwirtschaftet werden.
Ranju zögerte nicht lange und bewarb sich. Beim Vorstellungsgespräch war sie nervös, aber hoffnungsvoll – bis die beteiligten Beamten nach ihrer Staatsbürgerschaftsurkunde fragten. Sie hatte keine.
In ihrer Gemeinde ist das keine Seltenheit. Unverheiratete Töchter erhalten oft keine Staatsbürgerschaft, um sie vom Erben abzuhalten. Ohne dieses Dokument können sie keine Ausbildung abschließen, kein Bankkonto eröffnen, kein Unternehmen registrieren. Eine Herausforderung, die auch anderswo in Asien verbreitet ist.
Das Leitungsteam des Projekts beschloss, die junge Kandidatin zu unterstützen. Gemeinsam mit ihrer Familie reichten sie die notwendigen Unterlagen ein und begleiteten Ranju durch die komplizierte Bürokratie. Wochen später hielt sie zum ersten Mal das Dokument in den Händen, das ihr jahrelang verwehrt geblieben war: ihre Staatsbürgerschaft.
Lernen, die eigene Zukunft zu gestalten
Mit der Urkunde in der Hand konnte sie endlich an der Schulung teilnehmen, für die sie längst eine Zusage erhalten hatte. Sie besuchte einen fünftägigen Kurs zu Lebenskompetenzen mit Themen wie Zielsetzung, Selbstvertrauen und Kommunikation. „Mein Ziel war klar: Ich wollte ein eigenes Geschäft aufbauen“, sagt Ranju.
Es folgte ein Kurs zum Thema Unternehmertum, bei dem es um konkrete Geschäftsplanung, Finanzmanagement, Marketing und digitale Grundkenntnisse ging. Schritt für Schritt entwickelte sie dabei ihren eigenen Geschäftsplan. Zunächst wollte Ranju einen Schönheitssalon eröffnen, denn sie hatte zuvor eine Ausbildung zur Kosmetikerin gemacht. Doch dann erkannte sie, dass ihre Gemeinde etwas anderes dringender brauchte. „Die Leute mussten weit laufen, um Lebensmittel zu kaufen. Ich wollte einen Laden eröffnen, der das ändert.“
„Die Leute sagen, dass sie sich wünschen, ihre Töchter könnten so selbstständig sein wie ich.“
Gegen Erwartungen und Widerstände
Trotz ihres Entschlusses blieb der Weg schwer. In Madhesh ist es für junge Frauen nach wie vor ungewöhnlich, täglich allein in die Stadt zu fahren oder ein Geschäft zu führen. Als Ranju jeden Morgen zur Ausbildung nach Janakpur pendelte, wurde sie zur Zielscheibe von Gerede. Manche zweifelten an ihrem Charakter, andere erklärten, sie solle zu Hause bleiben.
Doch Ranju blieb standhaft. „Ich wusste, dass ich das Richtige tat“, sagt sie. Ihre Eltern unterstützten sie – eine Haltung, die in ihrer Umgebung alles andere als selbstverständlich ist.
Schritt für Schritt zum eigenen Laden
Dann ging alles ganz schnell und Ranju setzte ihr Vorhaben in die Tat um. Sie selbst steuerte 50.000 nepalesische Rupien bei, weitere 58.000 kamen teils in Form von Gutscheinen aus dem Projekt. So konnte die angehende Unternehmerin Baumaterial und Vorräte kaufen. Und nachdem die Türen an dem neu entstandenen Landen geöffnet hatten, florierte Ranjus Geschäft. Sie begann, regelmäßig einen kleinen Betrag zu sparen und das Sortiment zu erweitern. Ihr Geschäftssinn wuchs mit jeder Entscheidung.
„Ich habe gelernt, dass Erfolg nichts mit Glück zu tun hat“, sagt sie. „Er entsteht durch Geduld, gute Planung und den Willen, weiterzumachen.“ Jung und Alt schätzen nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre Freundlichkeit. Die engagierte Ladeninhaberin begrüßt jeden Menschen mit Respekt, bietet bei Hitze ein Glas Wasser an, hört zu. In einer Region, in der persönliche Beziehungen das Fundament des Handels bilden, hat sie damit Vertrauen gewonnen.
„Ich habe gelernt, dass Erfolg nichts mit Glück zu tun hat.“
Wandel im Kleinen
Ranjus Erfolg ist mehr als eine persönliche Geschichte. Er steht für eine Veränderung in einer Gesellschaft, in der viele junge Menschen, besonders Frauen, kaum Zugang zu Arbeit und Bildung haben.
In Nepal liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei rund 38 Prozent. Über 80 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten im informellen Sektor, oft ohne soziale Absicherung. Hinzu kommen politische Spannungen und regionale Unruhen, die den Zugang zu Bildung und Arbeit zusätzlich erschweren. Auf dem Land verschärfen frühe Heirat, geschlechtsspezifische Normen und Armut die Ungleichheit. Darauf reagieren Plan International und seine lokale Partner mit dem Programm für Jugendarbeit und -ausbildung.
Der Blick nach vorn
Obwohl Ranjus Mann wie einstmals ihr Bruder derzeit im Ausland arbeitet, denkt sie bereits an die Zukunft. Sie möchte ihren Laden vergrößern und eines Tages einen Großhandel eröffnen. Sie träumt sogar davon, ein Haus für ihre Eltern zu bauen. „Ich habe ihnen versprochen, dass ich mich um sie kümmere“, sagt sie. Ihr Mann und ihre Schwiegereltern unterstützen sie dabei.
Ihr Vater beobachtet sie oft beim Arbeiten. „Nach dem Tod meines Sohnes hatten wir alle Hoffnung verloren“, sagt er. „Aber als Ranju ihren Laden eröffnete, kam die Hoffnung zurück. Heute sind wir stolz auf sie.“ Und die junge Unternehmerin möchte, dass andere Mädchen sehen, dass Veränderung möglich ist. „Viele fragen mich, wie ich angefangen habe“, erzählt sie. „Ich sage ihnen: Du musst nicht viel Geld haben, nur den Mut, es zu versuchen.“
Die Geschichte von Ranju wurde mit Material aus dem nepalesischem Plan-Büro aufgeschrieben.