
Mädchen in der roten Zone der Gewalt
„Ich wusste nicht, dass ich ein Recht auf Schutz habe“, gibt Fatima zu. „Mir war auch nicht klar, wo ich Fälle von Gewalt melden kann.“ Die Jugendliche lebt in einer ländlichen Gemeinde im Nordosten Nigerias, im Bundesstaat Gombe. Dieser gilt als einer der Brennpunkte für geschlechtsspezifische Gewalt. Die örtliche Kommissarin für Frauenangelegenheiten und soziale Entwicklung, Asma'u Iganus, bezeichnet Gombe deshalb als „rote Zone“, in welcher sich Mädchen und Frauen nicht sicher bewegen können.
In der Region ist der Einfluss des konservativen Islam und patriarchaler Praktiken besonders stark. So dürfen Frauen teilweise das Haus nicht ohne männliche Begleitung verlassen und haben kaum Zugang zu eigenständiger Erwerbstätigkeit. Viele der Mädchen dort wissen nichts oder nur wenig über geschlechtsspezifische Gewalt. So ging es auch Fatima, bis sie an einem Workshop teilnahm, der ihr und den anderen Teilnehmerinnen das Wissen, die Fähigkeiten und die Ressourcen vermittelt hat, um geschlechtsspezifische Gewalt anzugehen und zu verhindern.

Gewalt gegen Frauen wird in Nigeria meist toleriert und die vorhandenen Schutzgesetze kaum durchgesetzt.
Geduldete Gewalt, wirtschaftliche Abhängigkeit und schwache Gesetzgebung
Nigeria ist eines der bevölkerungsreichsten Länder Afrikas. Gewalt, sexuelle Übergriffe und schädliche traditionelle Praktiken wie weibliche Genitalverstümmelung betreffen viele Mädchen und Frauen in dem westafrikanischen Land. Die gesellschaftlichen Normen sind stark von traditionellen und religiösen Werten geprägt. Patriarchale Strukturen schreiben Männern die Rolle des Familienoberhaupts und des Versorgers vor, während Frauen eine untergeordnete Rolle einnehmen und vor allem für Haushalt und Kindererziehung zuständig sind. Das macht sie wirtschaftlich abhängig von ihren Ehemännern.
Oft werden sie als weniger „wertvoll“ angesehen, was sich unter anderem dadurch äußert, dass in vielen Regionen des Landes Männern das Recht auf Polygamie zusteht, während Frauen in der Ehe zur Treue verpflichtet sind. Gewalt gegen Frauen wird meist toleriert und die vorhandenen Schutzgesetze kaum durchgesetzt. Die meisten Fälle werden gar nicht erst angezeigt, weil Polizei und Justiz als korrupt gelten. Opfer fürchten gesellschaftliche Stigmatisierung und Scham.

Allerdings begehren die nigerianischen Frauen seit einigen Jahren auf. Die feministische Bewegung im Land beginnt, sich kritisch mit Traditionen wie Polygamie, weiblicher Genitalverstümmelung und der Benachteiligung von Mädchen im Bereich der Bildung auseinanderzusetzen.
Schulungen schaffen Vertrauen
Mit gezielten Projekten möchte Plan International diese Bewegung stärken sowie die Sicherheit und das Wohlergehen von Mädchen und Frauen in der Region fördern. In Gombe hat die Kinderrechtsorganisation deshalb ein Schulungsprogramm für Jugendliche und junge Menschen entwickelt. Aufklärung und Information sollen den Weg für gesellschaftlichen Wandel ebnen. In einer Reihe von Workshops lernen Mädchen wie Fatima, was sie über geschlechtsspezifische Gewalt wissen müssen und entwickeln so ein besseres Verständnis für ihre Rechte.
Die Schulungen schaffen auch Vertrauen – Vertrauen der Mädchen in sich selbst und in die Menschen, die ihnen Unterstützung entgegenbringen wollen. So sind sie in der Lage, sich selbst zu schützen und Fälle von Gewalt gegebenenfalls an der richtigen Stelle zu melden. Dazu müssen die Mädchen aber erstmal bestimmte Handlungen als Unrecht erkennen können.


In einem Land, in dem Praktiken wie häusliche Gewalt, Kinderheirat und weibliche Genitalverstümmelung als alltäglich geduldet sind, sehen die Mädchen diese Handlungen oft als eine Lebensweise und nicht als einen Eingriff in ihre Rechte an. Vor allem dann nicht, wenn sie keinen Zugang zu Bildung bekommen, frühzeitig die Schule abbrechen müssen oder es ihnen an alternativen beruflichen Perspektiven fehlt.
Für ein selbstbestimmtes Leben der jungen Generation
In den Schulungsworkshops, durchgeführt von der lokalen Plan-Partnerorganisation Open Knowledge Development Initiative (OKDI), lernen die Teilnehmerinnen, was genau unter geschlechtsspezifischer Gewalt zu verstehen ist. So erfahren sie etwa, dass es verschiedene Formen von Gewalt gibt – körperliche, sexuelle, psychologische und wirtschaftliche. In gemeinsamen Diskussionen vertiefen sie ihr Wissen und stärken ihr Selbstbewusstsein.
„Durch den Workshop habe ich gelernt, welche Rechte ich als Frau habe und wie ich mich vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützen kann“, sagt Fatima. „Vorher war mir zum Beispiel nicht bewusst, dass Gewalt auch emotional ausgeübt werden kann.“ Dieses Wissen will die junge Frau nun mit ihrer Familie und ihren Freundinnen teilen. „Ich werde mich dafür einsetzen, dass mehr Menschen, insbesondere junge Mädchen, aufgeklärt werden“, nimmt sie sich fest vor. Zusammen mit Gleichgesinnten will sie veraltete Strukturen aufbrechen und der jungen Generation in ihrer Heimat ein selbstbestimmteres, gewaltfreies Leben ermöglichen.
Die Geschichte von Fatima wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Nigeria aufgeschrieben.