„Harte Zeiten können sich in Chancen verwandeln“

Foto: Greetje Van Buggenhout

In Ecuador haben junge Menschen genug von traditionellen Rollenbildern und der Männerdominanz. Sie wollen häusliche Gewalt, Diskriminierung und Ungleichheit überwinden – Plan International unterstützt und bestärkt sie darin.

Dunkle Wolken ziehen über Pedernales. Der Wind treibt die Vorboten der Regenzeit über den kleinen Küstenort. Dort wie im gesamten Nordwesten Ecuadors erwarten die Menschen zwischen Dezember und Mai üppige Niederschläge – darunter ist Jazmina. Die 23-jährige ehemalige Plan-Aktivistin blickt hinaus auf den Pazifik. „Harte Zeiten können sich in Chancen verwandeln“, sagt sie – und spricht aus, was fast ihr Lebensmantra sein könnte.

Hürden überwinden

Als ältestes von vier Kindern musste sie sich schon im Teenageralter um ihre jüngeren Geschwister kümmern und den Haushalt schmeißen, während ihre Mutter arbeitete. Bei so viel Verantwortung war es für Jazmina schwierig, mit ihren Schulaufgaben Schritt zu halten. „Ich war trotzdem eine der Klassenbesten“, sagt die junge Frau, die seit 2017 Gemeindevorsteherin in ihrer Heimat Pedernales ist. „Ich machte nachts Hausaufgaben – ich musste sie machen, um in der Schule mitzukommen.“ Doch mit 17 wurde Jazmina ungewollt schwanger und zog zu ihrem Freund Fride, einem Fischer aus derselben Gemeinde. „Wir teilten eine harte Jugend, was uns einander näherbrachte“, sagt sie. Mit ihm verband sie viele ähnliche, schmerzhafte Kindheitserfahrungen. Als werdende Mutter entschied sie sich, die Schule zu verlassen: „Ich bin gegangen, weil ich mich so sehr geschämt habe. Jetzt bereue ich es.“

Mutter und Aktivistin

Die frühe Schwangerschaft veränderte Jazminas Leben radikal. Sohn Jeremy sei zwar ein Segen und großes Glück für ihr Leben, sagt sie. Doch die ersten Jahre als junge Mutter seien auch extrem hart gewesen, eine immense Bürde für ein Mädchen in ihrem Alter. Sechs Monate nach der Geburt kam es zu einem noch viel größeren Einschnitt in ihrem Leben: Ein Erdbeben der Stärke 7,8 erschütterte im April 2016 ihr Zuhause und die Küstenregion. „Ich blicke zurück und habe das Gefühl, dass es ein unwirklicher Moment war“, erinnert sich Jazmina mit Schrecken an die Ereignisse von damals. „Eine Mauer stürzte fast auf mich und meinen Sohn; ich habe ihn umarmt und mich über ihn gebeugt, um ihn zu schützen.“
Nach dem Erdbeben startete Plan International Nothilfemaßnahmen in der Katastrophenregion. Die Kinderrechtsorganisation ist seit 1963 in Ecuador tätig. In unterschiedlichen Gebieten des südamerikanischen Landes wurden und werden unter anderem Projekte gegen Kinderarbeit, Gewalt und Missbrauch sowie für eine berufliche Qualifikation und Ausbildung von Jugendlichen durchgeführt. Und auch Nothilfe bei Krisen- und Katastrophenfällen leisten die örtlichen Plan-Teams. Für diese Arbeit suchten sie freiwillige Helfer:innen und fragten unter anderem Jazmina, ob sie in einem der seinerzeit 23 Plan-Kinderschutzräume im Erbebengebiet arbeiten könne. Mädchen und Jungen fanden dort Schutz, Unterstützung sowie etwas Normalität inmitten der Katastrophe. Jazmina war zuerst unsicher, ob sie das schaffen würde. Doch dann wurde Soraya, eine Plan-Mitarbeiterin, ihre Mentorin.

Plan-Aktivistin Jazmina
Die Plan-Aktivistin Jazmina (23) ist heute Präsidentin einer Küstengemeinde. Anika Büssemeier
Die Unterwasserwelt ist anders als alles, was man kennt
„Die Unterwasserwelt ist anders als alles, was man kennt“, sagt Stipendiatin und Meeresbiologin Sandra (23). Luzmarina Sono

„Nach dem Erdbeben gab es sehr viele traumatisierte Menschen, vor allem unter den Kindern“, sagt Jazmina. „Ein Mädchen war zum Beispiel so verängstigt, dass es immer einnässte. Wir haben auf spielerische Weise seine Angstzustände überwinden können.“ Jazmina begann bald, die Arbeit mit den Kindern in dem sogenannten „Child Friendly Space“ zu lieben. Ihr Interesse am Engagement und an der Möglichkeit, selbst etwas zu bewegen, war geweckt. Das schüchterne Mädchen von einst, das lange kein Wort in der Öffentlichkeit herausbekam, wandelte sich mit Unterstützung von Plan und Soraya zur Aktivistin für die Rechte von Mädchen und Jungen. In den Jahren nach dem Erdbeben nahm die junge Mutter an weiteren Plan-Aktivitäten teil und besuchte Workshops, um Führungsqualitäten zu entwickeln. Und schließlich erfüllte sie sich 2019 einen persönlichen Traum: Jazmina kehrte an eine weiterführende Schule zurück und holte ihr Abitur nach. Ihre Noten zeigten, dass sie früher eine tüchtige Schülerin gewesen war und darauf aufbauen konnte. Plan International unterstützte sie wie andere Schüler:innen mit dem Projekt „Ein Stipendium, eine Zukunft“. Es ermöglicht Kindern und Jugendlichen, ihre Ausbildung fortzusetzen, und ermutigt Eltern, sie dabei zu unterstützen.

„Ich sah, wie mein Vater meine Mutter schlug, weil das Essen nicht gut war oder weil es ihm nicht schmeckte, bis es ihr eines Tages reichte“

Sandra, Stipendiatin und Meeresbiologin

Jugendmoderatorin und Meeresbiologin

Dass Bildung und Ausbildung einen Ausweg aus der Armut sowie missbräuchlichen Familienverhältnissen bieten können, weiß auch Sandra. Die 23-Jährige ist wie Jazmina an der Pazifikküste Ecuadors zu Hause und erlebte früh, wie ihre eigene Mutter unter einem gewalttätigen Ehemann litt. „Ich sah, wie mein Vater meine Mutter schlug, weil das Essen nicht gut war oder weil es ihm nicht schmeckte, bis es ihr eines Tages reichte“, sagt Sandra. „Sie ging zurück in ihre Heimatstadt Santa Elena, suchte sich einen Job und wurde unabhängig.“

Weg vom Machismo

Als ihre Tochter im letzten Grundschuljahr war, kam sie zu einem Kulturprogramm, das Plan International für Kinder und Jugendliche organisierte. „Am Anfang wollte meine Mutter nicht, dass ich da mitmache“, sagt Sandra. „Sie meinte, es sei Zeitverschwendung, aber meine Großmutter wollte, dass ich neue Horizonte erkunde.“ Sandra nahm als Zwölfjährige an Jugendmedienprojekten teil. Sie machte bei einem Radiosender mit, führte Interviews und engagierte sich später bei einem lokalen Fernsehkanal. „In den zwölf Jahren, in denen ich an Plan-Programmen teilgenommen habe, habe ich viel darüber gelernt, wie Mädchen und junge Frauen selbst über ihr Leben bestimmen können. Ich habe später sogar an Foren mit Staatsministern und zum Thema Teenagerschwangerschaft teilgenommen, war in Beiräten tätig und habe von einem Universitätsstipendium profitiert, sodass ich meinen Abschluss in Meeresbiologie machen konnte“, schwärmt Sandra. „Die Unterwasserwelt ist anders als alles, was man kennt. Es gibt ungewöhnliche Lebensformen, Organismen bewegen sich auf eine besondere Art, man befindet sich in einem fremden Revier und muss es respektieren.“ Ein Studium wie dieses sei ein guter Weg, um etwas Nützliches aus sich und seinem Leben zu machen, anstatt Lastern wie etwa dem in dieser Region weit verbreiteten Drogenmissbrauch zu verfallen.

Familie in Pedernales
Viele Familien in Pedernales leben vom Fischfang. Anika Büssemeier

Ein weiteres Problem in Ecuador sei der Machismo, findet Sandra, der es Jungen und Männern erlaube, Mädchen und Frauen herabwürdigend zu behandeln und sie zu diskriminieren. Frauen und Männer hätten bestimmte Rollen, Kleiderordnungen sowie Aufgaben zu erfüllen. Fragen nach Sexualität oder Verhütung würden tabuisiert – selbst an der Universität, an der Sandra ihren Abschluss gemacht hat. Verhütung und Familienplanung sind für Sandra trotzdem selbstverständliche Themen, seit sie am Leadership-Programm von Plan International teilgenommen hat. „Meine Mutter hat mich mit 15 Jahren bekommen“, gibt Sandra zu bedenken, die auch mit 23 Jahren noch nicht daran denkt, eine Familie zu gründen. Ihren Vater hat sie nach all den Jahren auch wiedergesehen: „Er war früher sehr gewalttätig und jäh zornig, und er sagte mir, dass ihm das leidtäte. Aber ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann, denn er ist ein Macho – und das ist nur schwer zu ändern.“

Feminist und Machismo-Kritiker

Viele Menschen in Ecuador denken, dass Mädchen und Frauen allein für ihre Rechte kämpfen sollten. Es gibt aber auch Jungen und Männer wie Iñigo, die vom Gegenteil überzeugt sind. Als Jugendaktivist für die Plan-Kampagne Girls Get Equal (s. Seiten 22-23) möchte er andere junge Männer dazu inspirieren, Feministen zu werden. Der 18-Jährige, der 2019 Plan-Jugendbotschafter wurde, ist der Meinung, dass Frauen überall dort die Führung übernehmen müssen, wo man sie normalerweise nicht antrifft. Es sollte mehr Frauen wie Jazmina geben, die heute einer Gemeinde vorsteht.

Plan-Jugendclub für mehr Gleichberechtigung in Ecuador
Aktivist Iñigo (18, oben rechts) engagiert sich im Plan-Jugendclub für mehr Gleichberechtigung in Ecuador Plan International

Verantwortung übernehmen

Als Iñigo aufwuchs, brachten ihm seine Eltern bei, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und dass jede:r unabhängig von Geschlecht oder sozialem Status respektiert werden muss. „Seit ich klein war, weiß ich, dass die Aufgaben im Haushalt von allen Familienmitgliedern erledigt werden müssen. Es gab nie einen Unterschied zwischen mir und meinen Brüdern, wir mussten lernen, für unsere Aufgaben selbst verantwortlich zu sein“, sagt Iñigo. Werte wie Gleichberechtigung und Menschenrechte waren auch Thema in der Kindergruppe, in der Iñigo mitmachte und die sich schon damals für Chancengleichheit stark machte. Als Teenager begann Iñigo, sich immer stärker an dem verbreiteten Machismo in seinem Umfeld zu stören. Seine Freunde waren etwa der Meinung, dass Männer nicht kochen und Frauen zu Hause bleiben sollten. Einmal erfuhr Iñigo auch von einem Mädchen, dessen Eltern es nicht studieren ließen, weil sie fanden, dass sie als Frau zu Hause bleiben und die Hausarbeit erledigen sollte. „Das war für mich der Punkt, wo ich handeln und mich dafür einsetzen musste, dass Mädchen, Jugendliche und junge Menschen gleichberechtigt ihre eigenen Entscheidungen im Leben treffen können“, sagt Aktivist Iñigo, der auch als Jugendbotschafter Ecuadors tätig war. Spätestens dabei wurde dem engagierten jungen Mann klar, dass eine Führungspersönlichkeit nicht die Person mit dem höchsten Rang ist, sondern jene, die anderen dabei hilft, Schwierigkeiten zu überwinden und gemeinsam Erfolg zu haben. „Ich war immer von Menschen umgeben, die mich ermutigten, meine Stimme zu erheben“, sagt Iñigo. „Ich werde damit nicht aufhören.“

Frauen aus Pedernales profitieren von einem kleinen Laden
Jazmina (Mitte) und andere Frauen aus Pedernales profitierenvon einem kleinen Laden mit angeschlossenem Kreditsystem Anika Büssemeier
Jazmina mit Familie
Jazmina mit Sohn Jeremy und Lebenspartner Fride. Anika Büssemeier

Für eigene Träume kämpfen

Ihre Stimme lässt auch Jazmina nicht ruhen – erst recht nicht, seit sie Gemeindevorsteherin in Pedernales geworden ist und hart daran arbeitet, die Lebensbedingungen aller Menschen in ihrem Viertel zu verbessern. „Ich habe einen Wachstumsprozess durchlebt und mich von einem schüchternen Mädchen, das kaum ein Wort in der Öffentlichkeit sagen mochte, zur Präsidentin meiner Gemeinde entwickelt“, sagt die populäre Lokalpolitikerin und lächelt. Sie hat erreicht, dass fast alle Haushalte von La Playita einen Stromanschluss erhalten haben und 90 Prozent der Straßen inzwischen beleuchtet sind, was bei Dunkelheit vor allem für die Sicherheit von Mädchen und Frauen entscheidend ist. Im Gegenzug forderte Jazmina von den Dorfbewohner: innen, monatlich eine kleine Summe in eine Gemeinschaftskasse einzuzahlen, aus der wichtige Projekte wie diese finanziert werden. Als Mitglied des örtlichen Kinderschutzkomitees bleibt Jazmina für die Rechte Minderjähriger engagiert und setzt sich – auch aus eigener Erfahrung – gegen frühe Mutterschaft ein. „Erst sollten junge Frauen studieren und arbeiten, um Eigenständigkeit zu erreichen. Nur so können wir nachhaltige Veränderungen erreichen“, sagt Jazmina, die die Frauen von La Playita außerdem ermutigte, einen kleinen Gemeinschaftsladen zu eröffnen, aus dessen Gewinnen wiederum Kleinkredite für Frauen aus der Gemeinde vergeben werden. „Ich sage immer, dass es wichtig ist, für die eigenen Träume zu kämpfen.“ Harte Zeiten können sich in Chancen verwandeln – so ihr Credo. Unterstützt wird sie auf diesem Weg von ihrem Freund Fride, dem Fischer, mit dem Jazmina auch heute noch zusammenlebt.

Jugendaktivist Iñigo
Jugendaktivist Iñigo möchte später in die ecuadorianische Lokalpolitik wechseln. Plan International
Jazmina im Gespräch mit Jugendlichen
Jazmina (rechts) im Gespräch mit Jugendlichen in ihrer Gemeinde Anika Büssemeier

„Mein persönlicher Wunsch ist es, dass wir irgendwann eine demokratisch gewählte Präsidentin in unserem Land haben, um zu zeigen, dass Frauen genau wie Männer jede Führungsrolle übernehmen können“, ergänzt Feminist Iñigo, der derzeit Bauingenieurwesen studiert und später selbst in die Politik wechseln will. „Ich möchte Bürgermeister werden und mich für soziale Gerechtigkeit in Ecuador einsetzen.“

Häuser in Pedernales
In Pedernales haben fast alle Häuser einen Stromanschluss. Anika Büssemeier

Marc Tornow und Claudia Ulferts von der Pressestelle im Hamburger Plan-Büro haben die Geschichten von Jazmina, Sandra und Iñigo aufgeschrieben und dabei Material verwendet, das ihre Kollegin Rebeca Martínez von Plan International Ecuador zusammengetragen hat.

Patenschaft für Kinder in Ecuador

In Ecuador lebt die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung in Armut. Mit einer Patenschaft helfen Sie uns, die Lebensbedingungen für Kinder, Familien und Gemeinden langfristig zu verbessern.

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