Die neue Gewalt gegen Frauen

Foto: Crystaline Randazzo

Seit 20 Jahren beschäftigt sich Susanne Kaiser mit Geschlechterrollen. In der Plan Post spricht die Journalistin und Autorin über Frauenhass und Sexismus.

Als Journalistin und Autorin schreibt Susanne Kaiser unter anderem für DIE ZEIT, DER SPIEGEL und Deutschlandfunk Kultur. Im Februar ist ihr aktuelles Buch „Backlash – Die neue Gewalt gegen Frauen“ erschienen. Seit 20 Jahren beschäftigt sie sich mit den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen, in jüngerer Zeit vor allem mit Phänomenen wie organisiertem Frauenhass und Sexismus.

Eine Frau sitzt in einer Gesprächsrunde
Die Journalistin und Autorin Susanne Kaiser Marvin Contessi

Toxische Männlichkeit ist derzeit ein gern gebrauchter Begriff, vor allem in den sozialen Medien. Ist er hilfreich oder kontraproduktiv?

Ich finde es wichtig, dass wir im Diskurs nicht gleich alle abhängen. Wenn wir sagen, dass Männlichkeit per se problematisch ist, dann erreichen wir damit nicht viel. Früher oder später müssen wir die Geschlechtergrenzen einreißen, dann brauchen wir „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ in der politischen Bedeutung der beiden Begriffe nicht mehr. Geschlecht muss nicht politisch aufgeladen sein. Jede Person sollte das für sich selbst bestimmen und sich identifizieren, wie sie möchte. Nur: Da sind wir noch nicht, deshalb müssen wir in langsamen Schritten voran gehen. Es gibt viele Menschen, die gar nicht wissen, was toxische Männlichkeit ist. Die müssen wir erst bereit dafür machen und zur Selbstkritik einladen.

„Es gibt viele Menschen, die gar nicht wissen, was toxische Männlichkeit ist.“

Susanne Kaiser, Journalistin und Autorin

Warum betrachten gerade junge Männer Gewalt als Möglichkeit, sich in der Partnerschaft Respekt zu verschaffen? Müssten wir da nicht viel weiter sein?

Für mich ist das nicht so überraschend. Jungen werden mit sehr ambivalenten Erwartungen in der Gesellschaft groß. Auf der einen Seite gibt es den progressiven Diskurs, der besagt, dass Gleichberechtigung etwas Erstrebenswertes ist. Junge Männer wissen, dass sie Grenzen einhalten müssen, dass sie nicht toxisch sein dürfen, dass ein „nein“ akzeptiert werden muss. Ihnen wird gesagt, dass sie weinen dürfen, dass sie rosa mögen oder sogar Tänzer werden dürfen.

„Die Vorbilder sind Männer, die mit ihrer Alphamännlichkeit sehr erfolgreich sind.“

Susanne Kaiser, Journalistin und Autorin

Auf der anderen Seite leben ihre Vorbilder ihnen oft etwas völlig anderes vor. In Videos und in den sozialen Medien sind die Vorbilder dann Cristiano Ronaldo, Johnny Depp oder Andrew Tate. Männer, die mit ihrer Alphamännlichkeit sehr erfolgreich sind oder auch misogyn. Diese Männer vermitteln ihnen: „Du musst dir die Sachen nehmen, die du willst. Du musst über Grenzen gehen, wenn du reich werden willst und schöne Frauen haben möchtest.“

Jungen oder männlich gelesene Personen sind in ihrer Männlichkeit schon lange verunsichert. Wenn sie nun die Wahl haben zwischen einem komplexen und für sie ungenau definierten Männlichkeitsbegriff oder einer Alphamännlichkeit, die klar vorgibt, wo es lang geht, dann ist nachvollziehbar, warum die zweite Variante für viele junge Männer deutlich attraktiver ist.

Welche Rolle spielen soziale Medien, wenn es um physische und psychische Gewalt gegen Frauen geht?

Algorithmen tragen zur Radikalisierung bei. Inhalte auf TikTok, Facebook, Twitter und Instagram müssen immer drastischer werden, wenn sie Aufmerksamkeit und Likes generieren sollen. Dadurch verstärken sich leider nicht die menschlichen und vernünftigen Ansichten, sondern die radikalsten werden ins Extrem getrieben, also Sexismus und Misogynie. Das bringt viel mehr Aufmerksamkeit und wird in dieser Logik belohnt. Die sozialen Medien verdienen damit viel Geld. Und es gibt kein Korrektiv, es gibt niemanden, der oder die widersprechen und damit ebensolche großen Reichweiten erzielen könnte.

„Algorithmen tragen zur Radikalisierung bei.“

Susanne Kaiser, Journalistin und Autorin

In deinem Buch „Backlash – Die neue Gewalt gegen Frauen“ beschreibst du die Ursachen der wachsenden Gewalt gegen Frauen …

… Gewalt ist in unserer Gesellschaft ein unterschätztes Problem, dabei werden die Formen der Gewalt immer drastischer. Nehmen wir zum Beispiel sexualisierte Gewalt: Frauen erleben nicht „nur“ Vergewaltigungen, diese Gewalt wird auch noch gefilmt und ins Netz gestellt. Gewalt gibt es mittlerweile auf so vielen Ebenen, dass es immer schwieriger wird, ihr zu begegnen. Schon Zehnjährige kommen heute über Pornografie in Kontakt mit Gewalt gegen Frauen. Ab 15 Jahren sind sie regelmäßige Konsument:innen von Pornos. Dort wird kein einvernehmlicher Sex gezeigt, es geht häufig um die Demütigung von Frauen. Das verleitet dazu, wie Studien zeigen, dass junge Männer und auch Frauen denken: „Irgendwie muss es wohl so sein, obwohl ich doch sehe, dass es nicht einvernehmlich ist.“ Darüber normalisiert sich Gewalt.

„Unsere Sprache kaschiert gern die Täter.“

Susanne Kaiser, Journalistin und Autorin

Dazu kommt, dass wir ein patriarchalisches Tabu haben, über strukturelle Gewalt zu sprechen. Das sind in der Berichterstattung fast immer nur „Einzelfälle“. Unsere Sprache kaschiert gern die Täter, schaut lieber auf die Tat, das Tatwerkzeug oder auf die „Opfer“, die durch dieses Wort auf eine bestimmte Rolle festgelegt werden und „Betroffene“ genannt werden müssten.

Trotz Statistiken, Dunkel- oder Hellfeldstudien gibt es viele Menschen, die Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft anzweifeln oder sie lieber sozialen Randgruppen zuschreiben möchten. Woher kommt das? Die Zahlen sind doch leicht zu recherchieren?

Unser progressiver Diskurs führt dazu, dass wir uns in der Gesellschaft ziemlich einig sind, dass Gleichberechtigung etwas Erstrebenswertes ist. Es ist einfach keine veritable Meinung mehr, zu sagen, Frauen könnten oder wüssten weniger als Männer. Wir haben also einen Diskurs, der uns glauben macht, Gleichberechtigung sei schon längst erreicht oder vielleicht sogar schon gekippt, so dass Frauen Männer gegenüber sogar schon überlegen sind. Faktisch ist das aber anders: Es gibt den „gender pay gap“ (geschlechtsspezifisches Lohngefälle), Altersarmut unter Frauen, Medizin, die Frauen benachteiligt. Die Annahme, wir seien schon gleichberechtigt, ist sicher ein Grund, dass konkrete Gewaltzahlen angezweifelt werden.

„Wir haben einen Diskurs, der uns glauben macht, Gleichberechtigung sei schon längst erreicht.“

Susanne Kaiser, Journalistin und Autorin
Eine Frau spricht in ein Mikrophon
Susanne Kaiser beschäftigt sich als Journalistin und Autorin seit 20 Jahren mit Geschlechterrollen Marvin Contessi

Warum halten immer noch so viele junge Männer am Bild des Mannes als Hauptverdiener in der Familie fest?

Weil männliche Sozialisation immer noch sehr alphamännlich funktioniert. Es ist unsere gesamte Gesellschaft, die diesbezüglich Einfluss auf Jungen nimmt: Schulen, Kitas und peer groups, die ihnen vermitteln: „Du musst stark sein, das Geld nach Hause bringen, deine Frau beschützen, die Entscheidungen zuhause treffen, die Kontrolle haben und darfst keine Schwäche zeigen.“ Es ist außerdem sehr schwer, Privilegien zu erkennen und aufzugeben. Hier zeigt sich der „enttäuschte Anspruch“ vieler Männer.

Männer profitieren aber nicht nur von Privilegien, sie schaden sich auch selbst, indem sie sich verbieten, ihre Gefühle nach außen zu zeigen und sich bei Problemen keine Hilfe holen mögen …

… Gefühle wie Wut und Ärger zu zeigen, ist sogar erwünscht und wird belohnt, denn das geht mit Stärke und Kontrolle einher. Sich Hilfe zu holen, bedeutet für viele Männer hingegen eine Aufgabe von Kontrolle. Sie haben Sorge, abhängig von einer anderen Person zu sein und das ist traditionell schwer mit Männlichkeit zu vereinen. Jungen lernen schon sehr früh, dass sie keine Hilflosigkeit zeigen dürfen. Wenn Jungen mit weiblich gelesenen Attributen auftreten, mit Glitzer, Einhorn-Shirts oder rosa Kleidung, dann werden sie ausgelacht. Umgekehrt ist es nicht so. Mädchen, die gerne Jungs sein wollen, gelten als tough, werden zumindest nicht ausgelacht. Diese Lächerlichkeit und Ungleichwertigkeit der Geschlechter bringt Jungen dazu, dass sie verunsichert sind und keine Schwäche zeigen wollen. Das ist dann auch später noch sehr wirkmächtig.

„Wenn Jungen mit weiblich gelesenen Attributen auftreten, dann werden sie ausgelacht.“

Susanne Kaiser, Journalistin und Autorin

Wie können junge Männer dazu bewegt werden, Geschlechterstereotype zu reflektieren und positive Männlichkeit(en) zu leben?

Es könnte möglicherweise ein Schulfach „Diskriminierung“ geben. Man könnte auch gleich tiefer einsteigen und sich direkt mit geschlechtersensibler Diskriminierung – vor allem in den sozialen Medien – auseinandersetzen, denn dort finden sich besonders starke Geschlechterstereotype und dort wird am meisten diskriminiert. In diesem Schulfach müsste das Gegenteil von „Don’t say gay“ stattfinden, diesem umstrittenen Gesetz, das in Florida seit kurzem das Sprechen über sexuelle Orientierung an Grundschulen verbietet. Wir müssen gerade bei Kindern anfangen, darüber zu sprechen.

Junge Männer heute – Rollenbild von gestern

Wie wird Männlichkeit in Deutschland gelebt? – das wollte Plan International wissen und befragte 18- bis 35-Jährige nach ihren Vorstellungen von Männlichkeit(en), darüber wie ein Mann zu sein hat, wie Jungen und Männer sich selbst und ihre Rolle in der Gesellschaft generell wahrnehmen.

Für die Umfrage „Spannungsfeld Männlichkeit – Wie ticken junge Männer in Deutschland?“ wurden 1.000 Männer und 1.000 Frauen befragt.

Hier sind die zentralen Ergebnisse

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